Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
lag kein Verdienst darin, Werke aus der Zeit von 1814 bis 1910 zu bewundern, die Zeit gehabt hatten, sich ihren Weg in die Köpfe der Menschen zu bahnen. Aber diese hier repräsentiert unsere Zeit, über dreiunddreißig Jahre unseres Lebens. Da sie die erste ihrer Art ist, ist sie vollkommen jungfräulich, sie hat wohl die Wirkung, die die Impressionisten damals hatten.«
Wie in Paris kümmerte er sich persönlich um die kleinsten Details und schickte Picasso Pläne von der Hängung und dem Platz, den er für jedes Bild vorsah. »Packende Wirkung der Kraft [Ihrer Bilder]. Ich musste sie durch zwei Braques ausbalancieren!« Man könnte diesen Satz für Liebedienerei halten, aber er ist aufrichtig. Paul urteilte streng über die einzelnen Werke selbst von ihm anerkannter Genies. »Der einzige Schwachpunkt ist Matisse«, fuhr er fort, »er hält nicht stand. Er wirkt schwach und fällt ab zwischen Ihnen beiden [Braque und Picasso]. Er hat die Formen und Volumina vergessen. Die Farbe tritt zu sehr in den Vordergrund, und man hat den Eindruck, dass man noch mehr Farbschichten hinzufügen und selbst die Wände bemalen könnte. Es wirkt wie angemalte Leinwand, während man bei Ihnen den Eindruck kolorierter Skulpturen hat.« Die Formulierung ist hübsch und grausam. Ich finde sie sehr ungerecht, denn das Licht, das Matisses Bilder durchflutet, verwandelt sie in unvergleichliche blaue oder gelbe Meisterwerke. Es stimmt, dass Paul die Bilder von Matisse, die zugänglicher sind als die der großen Abstrakten, weniger innovativ fand. Aber zwischen einem Maler und seinem Händler herrscht nicht immer Zärtlichkeit, wie wir gesehen haben.[ 3 ]
Im selben Brief schrieb er ärgerlich von einer anderen Ausstellung in New York – offenbar von Malern, die er nicht vertrat –, die ein Publikumserfolg war, »mit 2000 dummen Bildern, die die groteskesten Parodien sind. Das müssen die Leute doch merken! Aber ich wage mich zu weit vor, unter den Lebenden werden immer Dummheit und Böswilligkeit vorherrschen,und wir werden wohl beide schon im Sarg liegen, wenn die Nachkommen derselben Leute diese Kunst glorifizieren und dafür die der schöpferischen Generationen zerreißen, die Sie und andere dann hervorgebracht haben werden.« Doch schließlich siegte der Glaube an den Fortschritt, selbst in der Kunst: »Aber Galileo hatte recht,
›eppur si muove‹–
und sie bewegt sich doch
–
, nichts wird die Wahrheit aufhalten, das Schöne wird das Schöne bleiben.«
Würde dieses Land, das für Paul Rosenberg zuerst ein zu erforschender Kontinent war, für ihn zum Land des Exils werden oder zu einer zweiten Heimat?
1 Wenn nicht anders vermerkt, stammen alle Zitate in diesem Kapitel aus Unterlagen im Familienarchiv.
2 Alle Briefe Paul Rosenbergs an Picasso, auch die aus Amerika, stammen aus dem Archiv im Musée Picasso.
3 Vgl. die Korrespondenz mit Matisse im Kapitel »Châteaudun, Opéra und Madison Avenue«, S. 102.
EPILOG
A LS ICH DIESES BUCH BEGANN , glaubte ich nicht, dass es mich so weit forttragen würde. Ich wollte keine Biografie meines Großvaters schreiben, sondern einige Impressionen, eine Erinnerung, eine kleine Hommage an ihn.
An diesen gestern so fremden, jetzt unglaublich vertrauten Großvater.
An eine Welt, die der Malerei, von der ich mich hatte fernhalten wollen und von der in diesem Maß geprägt worden zu sein ich mir nicht bewusst gewesen war. Sie ist mir mit jedem Karton, den ich als Reaktion auf einen in behördlichen Aberwitz umgeschlagenen Sicherheitswahn öffnete, wieder zugänglich geworden.
An eine vergessene Epoche, die eines rühmlichen Frankreich, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine glanzvolle Republik der Künste war.
An eine andere Epoche, die die »Welt von gestern«[ 1 ] aus den Angeln gehoben, Europa verwüstet, den ganzen Planeten überrannt und Millionen von Menschen das Leben gekostet hat.
An eine Familie, die meine, die ich letztlich – wenn man mir die Anleihe bei Jean-Paul Sartre gestattet – beschreibenkönnte als ›aus dem Zeug aller Familien gemacht und die so viel wert ist wie sie alle‹ … Aber eine Familie, die mir näher ist, als ich geglaubt hätte, und der ich mehr verdanke, als ich dachte.
Im Mai 2011 sah ich mich wegen schmerzlicher Umstände wieder gezwungen, in New York zu leben, plötzlich gewissermaßen eine Gefangene Amerikas.
Die Stadt New York, die mir in meiner Kindheit verzaubert erschien, wurde für mich und die Meinen auf einmal gleichbedeutend
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