Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
2010/2011 hatte ich es daher eilig, nach New York in die 79. Straße zu kommen, ich kam mit dem Zug aus Washington. Hier befindet sich das Archiv, treu gehütet von meiner Tante Elaine, Pauls Schwiegertochter, die ihn verehrt. Sie hat es zusammengetragen und mithilfe einer Dokumentalistin des MoMA geordnet, dem sie das Archiv zu schenken gedenkt.
Tagelang habe ich dort die Nase in die verstaubten Akten gesteckt. Ein altmodischer Tisch in einem sechs Quadratmeter großen, fensterlosen Kämmerchen – ich bin sicher, dort fanden meine qualvollen Mathenachhilfestunden statt – mit verglaster Decke, wenig Licht und altem Linoleum auf dem Fußboden, in dem Stockwerk, in dem meine Eltern und ich bei unseren New-York-Besuchen wohnten.
Auf der Treppe, die aus der Wohnung meiner Tante dorthin führt, habe ich mich als Kind versteckt. Oft, wenn ich nicht schlafen konnte, habe ich mich heimlich in einer Ecke auf die Stufen gesetzt und zu hören versucht, was bei den Erwachsenen unten gesprochen wurde. Auch weil ich die Musik hören wollte, die mein Onkel liebte. Auf einer Treppenstufe,zitternd in meinem Pyjama, erlebte ich meine ersten Barockkonzerte. Ich weiß noch, wie ich entdeckte, dass Bizet das Thema seiner Musik zu Daudets
L’Arlésienne
offenbar von Delalande entliehen hat, und ich, die ich in meinen ersten Jahren meine Großmutter
Carmen-Arien
hatte trällern hören, empfand das als gigantischen Betrug …
Immer noch die 79. Straße. Meine Tante fragt sich, woher meine plötzliche Leidenschaft für meinen Großvater und die Familiengeschichte kommt, um die ich mich bisher kaum gekümmert hatte. Sie und meine Mutter, ihre Schwägerin, mochten sich nicht besonders und haben sich nie verstanden. Mama hatte ein so enges Verhältnis zu ihrem Bruder, dass meine Tante sich ausgeschlossen fühlte, umso mehr, als Alexandre sich sogar auf Kosten seiner eigenen Familie um meine Mutter kümmerte, sehr zärtlich, aber auch sehr ungerecht. Später, als ich gewisse Papiere entdeckte, wurde mir klar, dass er seinem Vater geschworen hatte, Micheline immer zu beschützen. Rechtfertigte das so viel Rücksicht auf seine Schwester, mehr als für seine Frau? Es ist nicht an mir, darüber zu urteilen, aber meine Tante – die aus den Geschäften von Pi-ar-enco herausgehalten wurde, über die mein Onkel meiner Mutter getreulich berichtete – litt sehr darunter.
Kurz, meine 89-jährige Tante Elaine, die noch gut zu Fuß ist und gute Augen hat, überwacht mich aufmerksam, schaut mir über die Schulter, welche Dokumente ich gerade lese, zu welchen ich mir Notizen mache. Soll ich ihr sagen, dass ich auf gut Glück herumstöbere? Ja, es stimmt ja auch. Ihr erklären, dass auch ich gewisse Rechte auf diese Dokumente habe? Unnötig kleinlich, da sie jedes Fetzchen Papier zur Galerie Rosenberg gesammelt und einsortiert hat. Mich über das Verschweigendes Privatlebens meiner Großeltern wundern, das, wie ich nun weiß, turbulenter war, als die Legende will? Sie würde es nicht verstehen und sich schützend vor sie stellen. Also forsche ich weiter, so gut ich kann.
Fotos von allen Ausstellungen in der Rue La Boétie vor dem Krieg. Weinrechnungen aus dem Jahr 1928. Briefe an den Direktor des MoMa vor und nach dem Krieg. Von meinem Großvater selbst geschriebene Papiere, der Anfang einer Autobiografie, die nur bis Seite zehn geht. Knappe Briefe an unbekannte Maler, die von Paul vertreten werden möchten. Eine Rahmenrechnung aus den Zwanzigerjahren. Und vor allem Telegramme und Briefe aus dem Jahr 1942, die zeigen, wie wenig die Flüchtlinge über die Vorgänge im besetzten Frankreich wussten. Auch Dokumente auf Russisch, denn die 1940 in Paris von den Deutschen geraubten Unterlagen der Galerie sind 1945 in Berlin von den Russen gestohlen und in großen, kyrillisch beschrifteten Schachteln sorgfältig geordnet worden. Wir haben sie erst vor ein paar Jahren zurückerhalten, dank der Hartnäckigkeit meiner Cousine Elisabeth und der Glasnost-Politik der russischen Behörden, die sie der französischen Regierung aushändigten, die wiederum so korrekt war, sie uns zurückzugeben …
Die Ausbeute dieser Konsultation des Familienarchivs in der 79. Straße verleiht dem Bild vom zweiten Leben meines Großvaters – nach dem Bruch der Vierzigerjahre – und seinen letzten Lebensjahren Kontur und Farbe.
Es war nicht nur ein Bruch, sondern auch die langsame Gewöhnung an den amerikanischen Kontinent, den er schon zwanzig Jahre zuvor mit Begeisterung
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