Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?: Mein Großvater, der Kunsthändler Paul Rosenberg (German Edition)
Schiff dorthin, das hieß vier oder fünf Tage Seekrankheit, später dann, bevor die ersten Boeings flogen, in der Super-Constellation, diesen Großraumflugzeugen, die im irischen Shannon und in Gander auf Neufundland zwischenlandeten.
Stolz trug ich das Abzeichen am Mantel, das der Cours Hattemer, die Schule, in die ich ging, den Klassenbesten jedes Trimesters verlieh. Sie war absolut lächerlich, diese kleine Kopie des Ordens der Ehrenlegion, aber die Leute im Bus fragten meine Mutter immer, mit was für einer Glanzleistung ich mir diese Auszeichnung verdient hätte, die sonst nur für Tapferkeit auf dem Schlachtfeld verliehen wird.
Mein Großvater ging wenig aus, denn er war anfällig, und die New Yorker Winter sind hart. In seinen letzten Jahren war er auch durch einen Schlaganfall geschwächt, der nicht seinen Verstand, aber sein Sprachvermögen geschädigt hatte. Er konnte nur noch mühsam sprechen. Seine stockende Stimme und sein arthritisch verkrümmter kleiner Finger machten mir Angst.
Im milderen Pariser Klima hingegen ging er gern an die frische Luft und nahm mich oft zu seinen Galeriebesuchen mit, es machte ihm Vergnügen, seine sieben- oder achtjährige Enkelin wie eine Erwachsene zu behandeln. Wir besuchten seine Pariser Kollegen, ein eher langweiliger Spaziergang für mich, aber er endete zum Glück immer im »Relais du Bois« im Bois de Boulogne, wo wir stumm, um die Eichhörnchen nicht zu erschrecken, frisch gepressten Orangensaft tranken.
Eines Tages nahm er mich mit zu Paul Pétridès, der eine bekannte Galerie, wegen seiner Kollaboration im Zweiten Weltkrieg jedoch einen schlechten Ruf hatte. Auf dem Rückweg im Auto brummelte Paul vor sich hin: »Dieser Mann ist ein Fasan«, ein merkwürdiger Ausdruck, wie mir schien. Als wir zu Hause ankamen, berichtete ich unter dem Gelächter der Familie sofort von diesem »Jägerausdruck« – der freilich sehr sprechend ist, denn dieses Wild wird immer leicht verdorben gegessen.[ 1 ]
Er hatte ein sicheres Auge, und wenn er bei dem oder jenem Kollegen ein Bild gesehen hatte, das ihn interessierte, überlegte er auf der Fahrt in den Bois de Boulogne lange hinund her, bis er schließlich – oft genug – zu dem apodiktischen Schluss kam: »Das Bild ist eine Fälschung!«
Jeden Sommer fuhr ich mit meinen Großeltern nach Südfrankreich, auf der von herrlichen, für Autofahrer aber oft tödlichen Platanen gesäumten Nationalstraße 7. Die A6 existierte noch nicht, und wir brauchten drei Tage bis Cannes. Die Etappen unterwegs waren unverrückbar Saint-Etienne am ersten und Avignon und Aix am zweiten Tag, bevor wir am dritten schließlich am Ufer des unendlichen Blau ankamen, wo man innerhalb von zwei Tagen unbedingt in die Galerie Maeght in Saint-Paul-de-Vence und vor allem nach Mougins zu Picasso musste.
Bei den Museumsbesuchen mit meinem Großvater (im Louvre, in kleinen Etappen, in der Orangerie und im Musée d’Art moderne, das sich vor dem Bau des Beaubourg im Palais de Tokyo befand) habe ich gelernt, was der Mühe wert und was »gar nichts wert« ist, nicht einmal einen Blick. Die Bedeutung der Werke war an der Schnelligkeit zu ermessen, mit der Paul durch einen Raum ging. Die Flamen natürlich, das italienische Quattrocento unbedingt, aber das französische und englische 17. und 18. Jahrhundert waren keinen Halt wert. Die Gainsboroughs, deren würdevolle Familien mich beeindruckten, würdigte Paul keines Blicks. Erst bei Corot – endlich –, Courbet und natürlich den Impressionisten lebte er wieder auf. Vor einigen Bildern von Malern, die gerade in Mode waren – zum Beispiel Bernard Buffet, den er verabscheute –, gönnte sich Paul den Luxus zu sagen, sie seien »keinen Pfifferling wert«. Manche wurden kurzerhand für hässlich erklärt, ohne Genie, ja ganz ohne Talent. Unbedeutendere Bilder von Renoir, Gauguin oder Monet erklärte er für zu rot oder zu dunkel,zu unbestimmt oder zu weich, ihnen fehle die Meisterschaft oder die Kraft. Diese Urteile haben für mich auch fünfzig Jahre später noch Gesetzeskraft. »Man soll sich nicht die Augen verderben«, sagte mein Großvater bei Werken, die nicht außergewöhnlich waren. Bei den Modernen, Braque, Matisse, Léger und Picasso, war er dann endlich in seiner Welt.
Aber dieses süße Leben gab es nur in Paris. In New York war es anders, mein Großvater arbeitete, und ich durchstreifte mit meiner Mutter und Großmutter die Stadt – als Kind war das für mich das Paradies.
In diesem Winter
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