Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
Hintertür des Lieferwagens aufmachte, bemerkte sie den Fehler sofort und wurde wütend. Und sie war sozusagen vorbereitet. Sie hatte ihr Beil dabei und schwang es hoch, als wollte sie den Botenjungen bestrafen – obwohl der natürlich gar nichts dafür konnte –, und der rannte vor zum Fahrersitz und fuhr los, ohne auch nur die Hintertür zuzumachen.
Einiges an der Geschichte war rätselhaft, obwohl ich zu der Zeit nicht darüber nachdachte, und meine Mutter auch nicht. Wie konnte die alte Frau schon sicher gewesen sein, dass die Butter bei den vielen Lebensmitteln fehlte? Und warum kam sie mit einem Beil ausgerüstet, bevor sie wusste, dass es etwas zu bemängeln gab? Schleppte sie es ständig mit sich herum, für den Fall irgendwelcher Belästigungen?
Von Mrs Netterfield hieß es, sie sei in jüngeren Jahren eine richtige Dame gewesen.
Es gab noch eine Geschichte über Mrs Netterfield, die mich mehr interessierte, weil ich darin vorkam und weil sie um unser Haus herum stattgefunden hatte.
Es war ein schöner Tag im Herbst. Ich war zum Schlafen in meinem Kinderwagen auf das kleine Stück mit frischem Rasen gestellt worden. Mein Vater war den Nachmittag über fort – vielleicht half er seinem Vater auf der alten Farm –, und meine Mutter wusch Sachen in der Küchenspüle. Für ein erstes Kind gab es eine aus vielen Glückwünschen stammende Menge von Selbstgestricktem, Bändern und Sachen, die mit einem sanften Mittel behutsam von Hand gewaschen werden mussten. Meine Mutter hatte kein Fenster vor sich, als sie an der Spüle stand, die Sachen wusch und auswrang. Um hinauszuschauen musste man das Zimmer zum Nordfenster durchqueren. Das gewährte einen Blick auf die Einfahrt, die vom Briefkasten zum Haus führte.
Warum beschloss meine Mutter, ihr Waschen und Auswringen zu unterbrechen, um einen Blick auf die Einfahrt zu werfen? Sie erwartete keinen Besuch. Mein Vater hatte sich noch nicht verspätet. Vielleicht hatte sie ihn gebeten, etwas aus dem Lebensmittelladen mitzubringen, das sie für das Abendessen brauchte, und war unruhig, ob er rechtzeitig damit kommen würde. Zu jener Zeit war sie eine einfallsreiche Köchin – weitaus einfallsreicher jedenfalls, als ihre Schwiegermutter und die anderen Frauen in der Familie meines Vaters für notwendig hielten. Wenn man denkt, was das kostet, sagten sie immer.
Oder es hatte vielleicht auch gar nichts mit dem Abendessen zu tun, sondern mit einem Schnittmuster, das er ihr mitbringen sollte, oder mit Stoff für ein neues Kleid, das sie sich schneidern wollte.
Sie sagte niemals, warum sie es getan hatte.
Arge Zweifel an der Kochkunst meiner Mutter waren nicht das einzige Problem mit der Familie meines Vaters. Es muss auch Gerede gegeben haben über die Art, wie sie sich kleidete. Ich erinnere mich daran, dass sie stets ein Nachmittagskleid trug, sogar wenn sie nur Sachen in der Spüle wusch. Nach dem Mittagessen legte sie sich eine halbe Stunde hin, und wenn sie aufstand, zog sie immer ein anderes Kleid an. Als ich später alte Fotos betrachtete, dachte ich, dass die Mode jener Zeit ihr nicht stand, weder ihr noch sonst jemandem. Die Kleider waren sackartig, und der Bubikopf passte nicht zu dem vollen, weichen Gesicht meiner Mutter. Aber das hätten sie nicht beanstandet, die weiblichen Verwandten meines Vaters, die nahe genug wohnten, um ein Auge auf sie zu haben. Ihr Fehler war, dass sie nicht aussah wie das, was sie war. Sie sah nicht aus, als wäre sie auf einer Farm aufgewachsen oder als hätte sie vor, auf einer zu bleiben.
Sie sah nicht das Auto meines Vaters die Einfahrt heraufkommen. Stattdessen sah sie die alte Frau, Mrs Netterfield. Mrs Netterfield musste von ihrem Haus herübergelaufen sein. Von demselben Haus, wo ich viel später den einarmigen Mann sah, der mich foppte, und nur ein einziges Mal seine kurzhaarige Frau an der Pumpe. Das Haus, von dem aus, lange bevor ich irgendetwas über sie wusste, die verrückte Frau den Botenjungen mit einem Beil verfolgt hatte, wegen ein bisschen Butter.
Meine Mutter musste Mrs Netterfield schon mehrmals begegnet sein, bevor sie sie auf unserer Einfahrt sah. Vielleicht hatten sie nie miteinander gesprochen. Aber womöglich schon. Meine Mutter konnte es sich zur Pflicht gemacht haben, auch wenn mein Vater ihr gesagt hatte, dass das nicht notwendig sei. Es könnte sogar Ärger geben, hätte er wahrscheinlich gesagt. Meine Mutter hatte etwas übrig für Leute wie Mrs Netterfield, solange sie sich
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