Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
anständig aufführten.
Aber jetzt dachte sie nicht an Freundlichkeit oder Benehmen. Jetzt rannte sie aus der Küchentür, um mich aus meinem Kinderwagen zu reißen. Sie ließ den Kinderwagen mit dem Bettzeug stehen, wo er war, rannte ins Haus zurück und versuchte, die Küchentür hinter sich abzuschließen. Um die Haustür brauchte sie sich nicht zu sorgen – die war immer abgeschlossen.
Aber mit der Küchentür gab es ein Problem. Soweit ich weiß, hatte sie nie ein richtiges Schloss. Es gab nur die Gewohnheit, zur Nacht einen der Küchenstühle vor die Tür zu stellen und die Rückenlehne so unter den Türknauf zu klemmen, dass jeder, der die Tür aufmachen wollte, um hineinzugelangen, einen schrecklichen Lärm veranstaltet hätte. Eine recht provisorische Art, für Sicherheit zu sorgen, will mir scheinen, und auch nicht in Einklang mit der Tatsache, dass mein Vater einen Revolver im Haus hatte, in einer Schreibtischschublade. Außerdem gab es, wie es sich im Hause eines Mannes, der regelmäßig Pferde erschießen musste, von selbst verstand, ein Gewehr und zwei Schrotflinten. Ungeladen, natürlich.
Dachte meine Mutter an irgendeine Waffe, sobald der Türknauf festgeklemmt war? Hatte sie je in ihrem Leben ein Gewehr in die Hand genommen oder eins geladen?
Kam ihr der Gedanke, dass die alte Frau womöglich nur einen nachbarlichen Besuch abstatten wollte? Ich glaube nicht. Es muss etwas Besonderes an ihrer Gehweise gegeben haben, eine Entschlossenheit im Herannahen einer Frau, die keine Besucherin auf dem Weg zu uns war, die nicht in freundlicher Absicht kam.
Möglich, dass meine Mutter betete, aber sie erwähnte es nie.
Sie wusste, dass Mrs Netterfield die Decken im Kinderwagen durchwühlte, denn unmittelbar, bevor sie das Rouleau an der Küchentür herunterzog, sah sie eine dieser Decken durch die Luft fliegen und auf dem Boden landen. Danach versuchte sie gar nicht mehr, die Rouleaus an den anderen Fenstern herunterzuziehen, sondern blieb mit mir auf dem Arm in einem Winkel, in dem sie von draußen nicht zu sehen war.
Kein höfliches Klopfen an der Tür. Aber auch kein Drücken gegen die Tür. Kein Wummern oder Rütteln. Meine Mutter in dem Versteck beim Speisenaufzug, in der verzweifelten Hoffnung, die Stille möge bedeuten, dass die Frau sich besonnen hatte und nach Hause gegangen war.
Doch nein. Sie ging ums Haus herum, ließ sich Zeit und blieb an jedem Fenster im Erdgeschoss stehen. Die Sturmfensterläden waren jetzt im Sommer natürlich nicht dran. Sie konnte ihr Gesicht an jede Fensterscheibe pressen. Die Rouleaus waren alle so weit hochgezogen, wie es ging, wegen des schönen Wetters. Die Frau war nicht sehr groß, aber sie brauchte sich nicht zu strecken, um hineinzuschauen.
Woher wusste meine Mutter das? Nicht, dass sie mit mir auf dem Arm herumgerannt wäre, sich hinter einem Möbelstück nach dem anderen versteckt und in panischer Angst hinausgespäht hätte, vielleicht in ein Gesicht mit wild blickenden Augen und irrem Grinsen.
Sie blieb bei dem Speisenaufzug. Was konnte sie anderes tun?
Es gab natürlich den Keller. Dessen Fenster waren so klein, dass niemand durch sie hineingelangen konnte. Aber die Kellertür ließ sich nicht von innen verhaken. Und es wäre irgendwie noch schrecklicher gewesen, da unten im Dunkeln gefangen zu sein, falls die Frau sich schließlich Zugang zum Haus verschafft hätte und die Kellertreppe heruntergekommen wäre.
Es gab auch noch die Räume oben, aber um dorthin zu gelangen, hätte meine Mutter das große Zimmer durchqueren müssen – das Zimmer, in dem in der Zukunft das Versohlen stattfinden sollte, das aber seine böse Aura verlor, nachdem die Treppe verkleidet worden war.
Ich weiß nicht mehr, wann mir meine Mutter diese Geschichte zum ersten Mal erzählte, aber ich meine, dass die frühen Versionen an diesem Punkt endeten – bei Mrs Netterfield, die Gesicht und Hände an die Scheiben presste, während meine Mutter sich versteckte. In späteren Versionen jedoch gab es ein Nachspiel. Ungeduld oder Wut griffen Platz, und dann kam das Rütteln und Wummern. Allerdings kein Geschrei. Vielleicht fehlte der alten Frau dafür die Puste. Oder sie vergaß, weswegen sie gekommen war, sobald ihr die Kraft ausging.
Jedenfalls gab sie auf; das war alles. Nachdem sie alle Fenster und Türen abgeklappert hatte, ging sie fort. Meine Mutter fasste schließlich genug Mut, um sich in der Stille umzuschauen, und kam zu dem Schluss, dass Mrs Netterfield
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