LIEBES LEBEN
geht weiter. Er wirft nicht mal einen Blick zurück. Kevin ist sofort wieder an meiner Seite.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt er.
»Bestens. Genau so, wie es sein muss.«
»Gut. Lass uns zusammen Mittagessen, bevor du zum Flughafen musst. Ich bringe dich hin«, bietet Kevin an. Und ich habe nicht mehr die Kraft, ihm zu widersprechen. Aber ich werde ihm beim Mittagessen die Stelle aus dem Korintherbrief erklären, wo es heißt, dass wir nicht mit Ungläubigen an einem Joch ziehen sollen. Irgendetwas Gutes muss dieser Tag schließlich auch bringen. Und diese Freundschaft. Ich winke Kay zu und signalisiere ihr, dass sie mich nicht fahren muss, und dann schaue ich Kevin an, als führe er mich zum Schafott.
33
Die Hochzeitskapelle ist trostlos dämmrig, bis auf die bunten Lichtstrahlen, die durch die bunten Glasfenster mit ihren geometrischen Mustern hereinfallen. Auf den Glasscheiben sind keine Heiligen abgebildet, sondern nur Karo- und Pik-Muster und wenn ich mich nicht täusche, auch ein grünes Dollarzeichen. Bei dem Gedanken, dass Dave die Kapelle ausgesucht hat, muss ich lachen. Er liebt es, Menschen zu schockieren, und ich bin mir sicher, dass das seine Absicht dabei war.
Ehrlich gesagt ist mir das auch nicht ganz geheuer, aber ich kann in den Details die dramatische Veranlagung meines Bruders erkennen. An den Wänden hängen blutrote Vorhänge, und über den Stühlen sind weiße Überzüge mit überdimensionalen Schleifen auf der Rückseite. Lichterketten blinken unausstehlich, als sei in Las Vegas jeden Tag Weihnachten, und ich weiß ganz genau, dass mein Bruder bis zu seinem Tod darüber lachen wird.
Mei Ling muss eine wahre Heilige sein, wenn sie es mit meinem Bruder aushält. Inmitten dieses Angriffes auf die Sinne werden meine kleinen chinesischen Mitbringsel gar nicht bemerkt werden. Überall stehen Seidenblumen (man könnte auch künstliche Blumen sagen), als sei eine Seidenblumenfabrik explodiert. Die Kuppel ist riesig - besser gesagt, höhlenartig - mit einer schwarzen Decke, wie im Theater. Ich bin total überwältigt und kann mich auf nichts konzentrieren, weil ständig irgendwo ein Licht aufblinkt und mir ins Auge fällt.
Noch bevor ich ins Casino kam, wurde ich von einem Schwarm weiß gekleideter Bräute überrollt. Zu einer Hochzeit im Casino-Stil scheinen tiefe Dekolletees zu gehören.
Obwohl in der Kapelle für fünfzig Besucher Platz ist, sind wir nur neun, außer Braut und Bräutigam. Meine drei Tanten - in voller, glitzernder, tief ausgeschnittener Aufmachung, um den Casino-Bräuten Konkurrenz zu machen –, meine Eltern, Brea und John und der Trauzeuge: Mister Hast-du-mal-Feuer, Chip Standish. Das Ganze sieht so nach billiger Showaus, und mein Bruder tut mir wirklich leid, aber ich weiß auch, dass das für ihn die Hochzeit schlechthin ist. Und Mei Ling scheint es nichts auszumachen. Im Nebenzimmer hat sie sogar über ihre Vegas-Hochzeit gekichert und gemeint, sie sei besser, als sie gedacht hätte. Sie meinte, Dave wisse wirklich, wie man eine Party schmeißt, und das liebe sie an ihm - dass er immer der Mittelpunkt jeder Party sei. Sie verriet mir auch, dass sie mit dem Hochzeitsgeld eine Kreuzfahrt zu den Bahamas machen wollten. Sie ist schon eine klasse Frau, dass sie all das zulassen, ja sogar genießen kann. Offensichtlich passt sie besser zu Dave, als ich dachte.
Ich warte am Ende des Mittelganges, gegenüber von meinem Bruder, der aussieht, als würde er jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Ich kann aus drei Metern Entfernung sehen, wie er atmet - kein gutes Zeichen. Ich bete im Stillen, dass er das hier überlebt. Ich frage mich, wie es wohl ist, sich zu einer lebenslangen Ehe zu verpflichten, wenn man es noch nicht einmal geschafft hat, von zu Hause auszuziehen und selbstständig zu leben. Ich glaube, ich hatte bisher nicht genügend Respekt vor der Entscheidung, die er hier trifft.
Ich dagegen halte die Luft an. Ich muss gestehen, dass der ganze Tag ein wenig irreal auf mich wirkt, als geschehe das alles gar nicht wirklich. Vielleicht kommt noch die große Erleuchtung, wenn mir bewusst wird, dass ich ohne männliche Begleitung auf der Hochzeit meines Bruders bin. Aber im Moment bin ich einfach nur dankbar, dass ich nicht hier heiraten muss.
Ich trage ein dunkelblaues, schulterfreies, langes Kleid von McClintock. Es ist zwar von der Stange, aber die Braut hat es ausgesucht, und ich sehe darin nicht aus wie eine ausgestopfte Aubergine, also gibt es nichts zu klagen. Mei
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