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Liebesbrand

Liebesbrand

Titel: Liebesbrand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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nicht?
    Wenn man einem Ochsen ins Horn kneift, merkt er mehr als du, sagte Gabriel, da sehen wir doch, wie weit du mit deiner Praxis
     kommst.
    Kann man hier was essen? sagte ich.
    Hier servieren sie Essen aus Töpfen, die den ganzen Tag auf der Herdplatte stehen, sagte Napp.
    Die Fremde machte keine Anstalten, uns zu bedienen, sie hatte mitten in einem Satz ins Wienerische gewechselt, was war das
     für ein eigenartiges Deutsch, das sie alle sprachen, sie stauchten und preßten die Worte, sie zerbrockten sie in der Mundhöhle,
     und als hätte die Frau meine Gedanken gelesen, legte sie die Hand auf das Sprechloch und sagte in unsere ungefähre Richtung,
     daß der Koch krank wäre, krankgemeldet und nicht richtig im Kopf, er hätte Maiskörner in seiner Achselhöhle vorgewärmt und
     sie dann aufgegessen, das wäre gestern gewesen, und man hätte die zuständigen Behörden benachrichtigt, die sich nun bestimmt
     um ihn kümmerten. Uns war auf einen Schlag der Appetit vergangen, wir standen auf und gingen durch den Durchgang zur Windmühlgasse,
     Gabriel und Napp wollten einem Maoistenfreund aus alten Tagen einen Besuch abstatten, der ein Antiquariat eröffnet hatte,
     ich trennte mich von ihnen und ließ mich treiben. Alles schwer und viel in dieser geisterhaften Stadt, dachte ich, sie haben
     die Stadt unter der Erde ausgehöhlt, oberhalb ist alles alt und zugebaut und zusammengeschoben, unten Höhlen, Zahnlöcher,
     Schächte, Stollen und Schlünde, oben Grabsteine, Monumente, Hausreihen, Zahnreihen, dazwischen eine dünne Kruste, eine Scheidegrenze,
     doch es gab zu viele Tote auf knappem Raum, und vielleicht |319| stellten sie deshalb die Gerippe aus, sie störten die Totenruhe der Helden und der Heiligen, weil ihnen das Leben unheimlich
     war, denn die Toten dünsteten es aus, das Gas, und die Irren, die Verzückten, die Mönche und die Nonnen, die Soldaten und
     die Kriegstrommler rochen und atmeten es ein, und gab es etwa eine Verbindung zu der Zeitungsmeldung, auf die sich der Herr
     Hauptdienstleistender Harbach bezogen hatte: Alte, jahrelang nicht gewartete Gaswasserheizungen verwandelten sich in Todesfallen,
     das Gas wurde wegen der Hitze durch die Kamine gedrückt und strömte in die Wohnungen und vergiftete ganze Familien. In unnütze
     Gedanken vertieft, lief ich durch die Gassen und fand mich im Esterhazy-Park wieder, im Schatten eines Luftschutzbunkers saßen
     alte albanische Herren, die Hemden aufgeknöpft bis zum Bauch, auf großen Parkstühlen, sie schickten ihre Enkelkinder zum Zapfensammeln,
     die kleinen Mädchen reihten die Tannenzapfen auf einer niedrigen Mauerkrone nebeneinander auf und verdienten sich das Lob
     des Großvaters und der fremden Onkel. Die alten Herren spielten Karten, und obwohl es nach dem kurzen Regenfall schwül war
     und sich kein Blatt wiegte im Wind, schwitzten sie nicht, sie sahen sich nur immer wieder nach einer Frau im indischroten
     Sommerkleid um, die mit einem Fotoapparat in der Hand herumstrich. Ich sah, wie ein kleines kluges Mädchen ihr Malbuch aufschlug,
     auf der nächstgelegenen Parkbank, und die Pupillen der Märchenfiguren mit ungelenken Strichen schraffierte, alle anderen Felder
     ließ sie außer acht, und bald trugen alle Trolle und Riesen und die Wichtelweibchen in Reifröckchen Augenklappen. Ihre Mutter
     forderte sie auf, auch die Haarkränze und die Mützen und die Beinkleider mit den gelben, grünen und roten Wachsstiften zu
     bemalen, doch das kleine kluge Mädchen schaute sie kopfschüttelnd |320| an und sagte: Sie sind jetzt blind, sie werden jetzt stolpern. Da war ich also und hatte Tyra gefunden, und sie hatte eine
     zuckende warme Membran berührt, ich aber sank ein, ich fand keinen Halt im Himmel, ein dumpfer Schmerz in den Männern und
     Frauen, die Lumpen heulten, ich konnte es nicht mehr hinausschieben, sonst würde ich verfallen, sogar Gabriel, der sensible
     Materialist, hatte hinter die Sonnenblende seines Wagens einen sogenannten Schutzbrief geschoben, das war ein mehrfach gefaltetes
     Blatt Papier, auf das er das Vaterunser geschrieben hatte. Ein heulender Lump verbarg den Schmerz, ein heulender Lump klimperte
     mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche und grinste alles an, was nicht verkommen, vertan und klein war.
    Was machst du hier?
    Ich schaute auf, Gabriel saß auf dem zerschlissenen Sitz seines Fahrrads und stützte sich mit einem Bein ab, er hatte also
     doch sein beschädigtes Fahrrad aus Kiel mitgenommen und fuhr durch

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