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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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aus einem ganz anderen Impuls heraus?
    Als ich mir endlich einen Weg durch die Schar der Tänzer und die Zuschauermenge gebahnt hatte – niemand lässt sich gerne beiseiteschubsen, wenn Musik spielt –, hatte ich ihn aus den Augen verloren. Hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht, in der Absicht, sich nach Hause zu begeben, oder war er entschlossen, einfach in dieselbe Richtung wie vorher weiterzulaufen? War der Anblick von Marisa und mir nur eine zufällige Unterbrechung seines Ausflugs, den er jetzt ohne weiteren Halt fortsetzen würde, bis die Dunkelheit anbrach und es keinen anderen Weg mehr für ihn gab?
    Ich sah nach links und rechts, fragte sogar einige Passanten, ob sie ihn gesehen hätten, einen großen, ausgemergelten Mann mit einem Walrossbart. Dann entdeckte ich ihn schließlich, aber er war zu weit weg, um ihn einfach beim Namen zu rufen. Ich rief ihn trotzdem. Dann fing ich an zu rennen. In einem Park voller Spaziergänger war ich der Einzige, der ins Schwitzen kam. Nach etwa fünfzehn Sekunden hatte ich ihn eingeholt. Er, schlaksig und von reservierter Schönheit – die Abgespanntheit stand ihm gut –, wie ein Plantagenbesitzer aus den Kolonien in seinem beigen, zerknitterten Leinenanzug; ich, schnaufend und zudringlich, wie sein entlaufener Sklave, mit einer schwarzen Kopfbinde.
    Â»Meinen Glückwunsch«, sagte ich. »Sie sind ein Mann, der sein Wort hält. ›Jeder Mensch hat die Kraft, sich von einem anderen zu lösen‹, haben Sie neulich gesagt, und siehe da, Sie haben sich gelöst.«
    Er verlangsamte sein Tempo nicht und drehte sich auch nicht nach mir um. Ich musste mich beeilen, um Schritt mit ihm zu halten.
    Â»Andererseits«, fuhr ich fort, »ist es natürlich nicht schwer, vor Eifersucht davonzulaufen, wenn man sie gar nicht empfindet.«
    Ich glaube, er stutzte für den Bruchteil einer Sekunde. Würde er mir an die Gurgel gehen? Würde er mir in die Arme sinken?
    Â»Erstaunlich«, sagte ich, »dass Sie nicht stehen geblieben sind, um meine Frau zu begrüßen. Aber wenn ich die Uhrzeit bedenke, dann sind Sie im Geist bestimmt schon ganz woanders. Ich richte ihr Ihre Grüße aus, und ich bestelle ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, denn Sie sind ein Mann, dem alles gleichgültig ist, was Eifersucht ihm vorwerfen kann. Wie immer um die gleiche Zeit nächste Woche?«
    Keine Ahnung, ob Marius in dem Moment innehielt, oder ob der Schlag deswegen so wirkungsvoll war, weil er aus der Bewegung heraus erfolgte. Jedenfalls ging ich plötzlich in die Knie, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen war, und hielt mir die eine Gesichtshälfte. Eigentlich war es kein Fausthieb, nur ein Stups mit dem Ellbogen, als wollte er einen Taschendieb wegdrängen. Es war eher der Überraschungsmoment als die Wucht, die mich aus dem Gleichgewicht brachte.
    Ein Mann, der mit einem Hund Fußball spielte, der kleiner war als der Ball, kam zu mir und fragte, ob alles in Ordnung sei. »Was haben Sie bloß zu ihm gesagt?«, fragte er mich.
    Â»War nur ein Dienstbote. Danke, mir ist nichts passiert.«
    Ich ging trotzdem auf seinen Vorschlag ein und setzte mich auf eine Bank.
    Ich weiß nicht, wie lange es dauerte – Minuten? Stunden? Tage? –, bis Marisa kam, die Schuhe in der Hand.
    Â»Was ist passiert?«, fragte sie. Ihre Miene verriet mir, dass sie es längst wusste. Manche Dinge träumt man im Voraus, so unvermeidlich sind sie.
    Â»Marius«, antwortete ich, in der Annahme, das würde reichen. Da es offenbar nicht reichte, ergänzte ich: »Ich dachte, er würde uns gerne mal beim Tanzen zugucken. Eine Täuschung.«
    Sie legte die Finger an die Schläfen. »Komm heute Abend nicht nach Hause, Felix«, sagte sie.
    Ich nickte.
    Sie wollte noch etwas sagen, aber ließ es dann bleiben. Sie war sehr blass geworden, Stirn und Wangen verliehen ihr eine gewaltige Schwere, wie einer der Demoiselles auf Picassos Bild. Im ersten Moment dachte ich, sie würde ohnmächtig, aber es war wohl doch nur die Nachwirkung der Musik, die das Blut zu schnell durch ihren Körper gepumpt hatte. Sie schien irgendwie außer sich, wie eine Frau, die gleich anfangen würde, zu kreischen oder sich die Haare auszureißen. An den Bewegungen ihres Kopfes konnte ich nicht erkennen, ob sie lediglich versuchte, die Erinnerung an diesen Tag abzuschütteln, oder ob sie nach Marius Ausschau

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