Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
Vom Netzwerk:
meine Brust gedrückt –, fragte ich mich unwillkürlich, warum ich sie jemals freigegeben hatte. Ich zog sie noch näher an mich, das Ruhezentrum ihrer wirbelnden Welt, und ließ ihre Füße um mich kreisen, ganz wie es ihr gefiel. Bald wusste ich nicht mehr, wer von uns beiden den anderen stützte. Ihre Augen waren geschlossen, das wusste ich, ich hatte es gehört. Ich hörte ihr Herz. Hörte ihre Herzkammern sich öffnen und schließen. Was war ich für ein Dummkopf gewesen. Nie wieder. Bring das in Ordnung, sagte ich mir, ein für alle Mal, und dann – nie wieder.
    Doch dann, wie konnte es anders sein, stand wieder der kubanische Arzt vor mir, mit seinem hungrigen Pferdegesicht. Natürlich nicht er, sondern einer von seiner Sorte, erst einer, dann noch einer, einige mit gestauchten Pork-Pie-Hüten, die schief auf dem Kopf saßen, ein Paar mit Strohhüten, einer mit einem Stetson, einer mit Kopftuch, so wie ich, die halbe südamerikanische Gemeinde Londons, die zum Tangotanzen in den Park gekommen war. Ihr Tanz. Und mich an Marisa klammernd, dachte ich, wie schon Tausende Male zuvor: ihre Frau. Es gab keinen Anlass, nichts, keiner hatte irgendetwas gesagt, keiner sie irgendwie angesehen, sie selbst hatte auch niemanden angesehen, denn sie schlug ja kaum einmal die Augen auf. Doch sobald sie auch nur am Rand des Universums auftauchten, überließ ich ihnen das Begehren, überließ ihnen Marisa, überließ Marisa ihnen – unbekümmert, ja völlig unbekümmert darum, was sie begehrten – und spürte in diesem Geben und Verlieren wieder das süße Entzücken, das mir wie Honig durch die Kehle rann.
    Früher wäre das der Moment gewesen, in dem ich Marisa gesagt hätte, ich sei müde und sie möge sich doch einen anderen Partner suchen. Diesmal jedoch gab ich nicht auf. Gut möglich, dass in dem Augenblick, in dem Eifersucht mein Inneres verflüssigte, meine Füße anfingen, sich nach dem Rhythmus des Tangos zu bewegen, denn plötzlich tanzten wir. Ich meine nicht, auf unserer Achse kippeln oder Molinettes oder Giros ausführen, sondern tanzen. Die Musik hatte sich geändert, auch das hatte etwas damit zu tun. Man spielte jetzt »Libertango« von Ástor Piazzolla, jenem großen argentinischen Meister, der in seiner Musik den Rhythmus und die Qual des menschlichen Herzens erst erschaffen hat; das Bandoneon – so aufgeregt wie die Atmung –, das die Zupftöne der Bassgeige umspielte, die Geige, das Klavier, die elektrische Gitarre, während irgendetwas unerträglich Rhythmisches, entweder ein weiteres Instrument oder die Gesamtheit aller Instrumente an unseren Nerven zerrte, sarkastisch und wunderschön, grausam und exquisit, belebend und dem Untergang geweiht.
    Ich nutzte es aus, dass Marisa an meinem Hals hing, und küsste sie. Küsste ihre Wange, ihren Nacken, ihr Ohr. Sie hob den Kopf, die Augen noch immer geschlossen, und küsste mich auf den Mund. Die Zeit fiel von uns ab. Wir waren wieder die Alten, nicht wie vor hundert Jahren, aber wie gestern.
    Nicht gerade den Umständen angemessen – auf einem Holzpodest mitten im Regent’s Park, spielende Kinder um uns herum, Hunderte Tänzer, die sich auf ihre Schritte konzentrierten, mit den Zehen Figuren zeichneten, wie im Staub der Callejuelas in Argentinien –, sich so gierig zu küssen wie wir, aber wir konnten nicht aufhören, und sehr wahrscheinlich fiel es gar keinem auf, niemand störte sich daran. »Libertango« – ich bitte Sie! Wenn so eine Musik spielt, und es einem die Brust zerreißt, ist man zu allem fähig. Wir verschlangen uns gegenseitig, egal, was die anderen dachten.
    Und als ich zu guter Letzt aufblickte, sah ich Marius, der uns zuschaute.
    *
    Nach der Stelle zu urteilen, an der er stand, als ich ihn erblickte, und vorausgesetzt, dass er seinen Platz nicht gewechselt hatte, etwa um bessere Sicht zu haben, vermute ich, dass er den Park vom St. Andrew’s Gate aus betreten hatte, nachdem er die Wimpole Street entlanggegangen war, das Dröhnen im Ohr, vorbei an den Spezialisten für Rückenleiden und Hals-Nasen-Ohren und seelische Krankheiten, und sich beim Überqueren der Marylebone Street, auf der der Verkehr niemals ruhte, gefragt hatte, so wie ich mich vor wenigen Tagen gefragt hatte, ob es nicht besser wäre, hier unter die Räder zu kommen. Am St. Andrew’s Gate

Weitere Kostenlose Bücher