Liebesdienst
musste er innegehalten und überlegt haben, ob er weglaufen oder seinem Untergang entgegengehen sollte. Er war nicht weggelaufen. Dann der Broad Walk, an jedem anderen Tag ein Spaziergang, doch heute wie ein Gang zum Schafott. Hatte nicht King Charles I. noch eine Runde mit seinen Lieblingshunden in einem Londoner Park drehen dürfen, bevor man ihm den Kopf abschlug? Nicht weniger feierlich, stelle ich mir vor, schritt Marius voran, Schritt um Schritt â denn er erhöhte sein Tempo für niemanden: das elektrisierende Grün des Rasens nach dem Regen ein Schmerz für seine Augen, die unnötige Gartenmöblierung eine Beleidigung für seine strapazierten Sinne, die vollgestopften Urnen, die dreischaligen Brunnen, die Tröge und Beete grellbunter Blumen, die geranienumrankten Sockel, von fratzenschneidenden Greifen getragen, bedrückend wie eine Migräne, und die Farben alles Wachsenden immer ordinärer, groteske Lilatöne und derbe Rottöne, je näher er dem Knäuel der Tänzer kam. Zu beiden Seiten, unter den Lindenbäumen, fläzten sich Menschen auf Picknickdecken, widerwärtig, wie sie lachten, Champagner tranken. Keine Kurve im Wegverlauf, nichts, das den Anblick vor ihm abgeschirmt hätte, seine Grübelei durchbrochen, nur der unbeirrte Gang auf die spöttische Musik zu, schicksalsvoll, unerbittlich. Und dann das Schauspiel unseres Tanzes.
Ich wusste nicht, wie lange er schon da gestanden hatte, doch wenn man einen Menschen in einer Menge entdeckt, ahnt man manchmal unwillkürlich, dass er gerade erst gekommen sein muss. Als sich unsere Blicke trafen, fragte ich mich, in welcher Frühphase seines Wahrnehmungsprozesses er sich wohl gerade befand. Hatte er Marisa bereits gesehen, oder nur mich, seine Nemesis und seinen Joker, der an einem mäÃig sonnigen Sonntagnachmittag, der auch noch regnerisch zu werden versprach, im Park Tango tanzte, mich, der ihn wieder mal nervte, so wie ich ihn zuvor genervt hatte, ohne Wirkung und Erfolg, mit einer Frau, die er nicht kannte und die ihm egal war? Doch in dem Moment, wenn er Marisa erkannte. Was dann? Was für furchtbare Gedanken würden ihm dann durch den Kopf gehen? Er würde nicht alles auf einen Schlag begreifen, dazu war es zu viel. Dass ich derjenige wäre, der ihm den Brief geschickt hatte, daran konnte er nicht den geringsten Zweifel haben. Dass ich ihm aus unerfindlichen Gründen übelwollte und ihn mit dem Anblick von Marisa, in den Armen eines anderen, verletzen, auch das konnte er sich zusammenreimen. Doch ich â »der andere Mann«? Niemals. Ich und Marisa? Niemals. Marisa, die ihn mit mir betrog? Niemals. Es sei denn â und wahrlich, in dem Moment des Ãclaircissements hätte ich nicht in Mariusâ Kopf stecken wollen â, es sei denn, ich wäre derjenige, den sie ursprünglich mit ihm betrogen hatte. Ich â der Ehemann. Der Ehemann â dieser erklärte Perverse, der wie ein übler Geruch an ihm haftete. Doch wenn ich der Ehemann war, der Mann, mit dessen Frau und in dessen Haus er sich Freiheiten herausgenommen hatte, dessen Existenz für Marius nie auch nur das geringste Hindernis bedeutet hatte, auch nicht für Marisa â wenn ich der gesichtslose, stille Ãbergabe-Ehemann war, für den Marius ihn gehalten hatte â, warum dann diese innige Umarmung, dieser heftige, heiÃe Kuss im Park, während der »Libertango« unsere Herzen erschütterte?
Manchmal gerät es mir zum Vorteil, als Mann so zu leben, wie andere Männer es nicht wagen. Es gibt mir die Möglichkeit, rationale Erklärungen zu widerlegen.
Zu welcher Schlussfolgerung Marius auch gekommen sein mochte, er reagierte schnell.
Mir blieb nur Zeit für einen kurzen Moment des Bedauerns, als ich ihn sich entfernen sah, und das wegen Marisa, die fortan immer glauben würde, ich hätte diesen Kuss für ihn inszeniert. Dabei, und das ist die reine Wahrheit, hatte ich nie damit gerechnet, dass er kommt. Unter dem Einfluss von Marisas Nähe, der Liebe, die ich für sie empfand, des Bandoneons, das wie ein Mensch mit fiebrigen Lungen atmete, hatte ich Marius vergessen â beinahe jedenfalls.
Wollte ich ihm das sagen, was ich ihr nicht sagen konnte? Das galt nicht dir, Marius, das galt uns. War das der Auslöser, warum ich Marisa loslieà und hinter Marius herlief, als hätte ich plötzlich meinem eigenen Tod in die Augen geschaut? Oder geschah es
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