Liebesdienst
nicht das Zimmer.
Extreme Situationen haben auch etwas Tröstliches. Ich konnte an nichts denken, weil jeder Gedanke schrecklich war. Wie ein Schuljunge am Vorabend einer Prüfung fühlte ich mich. Ich hatte mich so gut es ging vorbereitet, alles Weitere war Schicksal. Solche Momente, in denen wir nichts mehr tun können, gehören zu den ruhigsten in unserem Leben. Wir bestehen oder wir fallen durch, es liegt nicht mehr in unserer Macht.
Abgesehen von den gelegentlichen intensiven Schlafphasen, aus denen ich jedes Mal erschreckt auffuhr, weil ich vergessen hatte, wo ich mich befand und wie ich hergekommen war â abgesehen von diesen schwarzen amnesischen Zwischenspielen, die höchstens zehn, fünfzehn Minuten dauerten, aber mir wie Tage vorkamen, lag ich hellwach. Nicht im Subspace. Subspace war dagegen ein Fest. Die Nächte, in denen Marisa mich wortlos verlassen hatte, manchmal vorher noch kurz bei mir vorbeigekommen war, um mir zu zeigen, was sie anhatte â einmal zu meiner Begutachtung kurz auf dem Absatz gedreht, wenn die Situation sie amüsierte, ein Lächeln, und weg war sie â, waren kostbar, ein Schwelgen in Düften und Farben, jeder Nerv in mir lebendig, empfänglich für die subtile Musik des Verlassenwerdens: die Geräusche ihrer Abwesenheit, die Geräusche ihrer Abenteuer in der Welt, die Geräusche ihrer Rückkehr; sie war dann immer voller Geschichten über ihre Reisen, und ich wartete sehnlichst auf sie, staunend wie Adam im Moment vor der Erschaffung Evas. Die Wachstunden in der Absteige von Primrose Hill waren eine grausame Parodie darauf â nüchtern, geruchsfrei und öde.
Der schlimmste Moment war, als mir während der Taxifahrt nach Hause, nun da sich meine Gedanken wieder in Gang setzten, aufging, dass Marisa annehmen musste, ich hätte alles für sie so eingefädelt und hätte auf diese Weise jedes bisschen Gefühl, das wir noch füreinander hatten, missbraucht, um an Marius heranzukommen. Schlimmer war nur noch der Gedanke, dass es mir niemals gelingen würde, sie vom Gegenteil zu überzeugen, sollten wir uns je wieder zusammenraufen und eine normale Ehe führen, glücklich bis ans Ende unserer Tage.
Marisa war nicht da, als ich nach Hause kam. Das überraschte mich nicht. Ich ging zu ihrem Kleiderschrank, um nachzugucken, ob sie ihre Sachen mitgenommen hatte. Nein, sie waren noch da. Aber ein groÃer Teil ihrer Schminkutensilien aus dem Badezimmer fehlte. Hatte sie eine Reisetasche oder einen Koffer gepackt? Sie hatte einen Koffer gepackt.
Nirgendwo ein Zettel, keine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Ich fuhr zur Arbeit, nicht weil ich Kraft hatte zu arbeiten, sondern weil ich an dem Ort sein wollte, an dem mich Marisa erreichen konnte. Auch hier keine Nachricht von ihr. Ich lieà noch einmal vierundzwanzig Stunden verstreichen, in denen ich keinen Versuch unternahm, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Vielleicht war das falsch, vielleicht nicht. Ich hielt auch nicht Ausschau nach ihrem Umriss im Fenster über dem Knopfgeschäft. Das jedenfalls war eine richtige Entscheidung. Doch ich musste Bescheid wissen, wenigstens, ob es ihr gut ging. Ich rief ihr Handy an, aber sie nahm nicht ab. Ich schickte ihr eine knappe, unverfängliche Nachricht: Akla? Alles klar? Die für mich untypische Schreibweise â sie wusste, dass mir solche Abkürzungen zuwider waren â deutete eine Dringlichkeit an, ohne sie jedoch zu einem Gespräch verleiten zu wollen, zu dem sie nicht aufgelegt wäre; und wer weiÃ, vielleicht lieà es auch auf eine geläuterte Person schlieÃen?
Spätabends erhielt ich Antwort. Ja. Na gut, immerhin. Trotzdem enttäuschend. Ich hatte gehofft, sie würde mir sagen, wo sie sei, und sich vielleicht sogar dafür bedanken, dass ich nicht weiter insistierte. Alles klar â daraus sprach ein eigenes erlesenes Taktgefühl. Ein Ehemann, der vergessen hatte, Distanz zu wahren, und sich jetzt dazu ermahnte. Dann kam mir der tröstliche Gedanke, dass ihre Antwort genauso taktvoll war. Sie machte mir keine Vorwürfe für das, was ich getan hatte. Sie sagte zum Beispiel nicht, ich könne ihr gestohlen bleiben. Erst nachdem ich lange in der Dunkelheit darüber gegrübelt hatte, wurde mir allerdings auch bewusst, dass sie meine Sorge nicht durch die Gegenfrage, bei dir auch?, erwidert hatte.
War das also ihre Art, es mir heimzuzahlen? Indem sie dem Mann, der
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