Liebesdienst
hätte es in jedem Beruf weit gebracht. Ich sage das ohne Bitterkeit. Wenn überhaupt, dann bewunderte Marisa Männer dafür, dass sie geschickt lügen und sich aus dem Staub machen konnten, wann es ihnen passte, oder eine Frau wie sie in einem feinen Haus in Marylebone unterbringen konnten, mit der Gewissheit, dass sie die Rolle der Hausdame bis zur Vollendung spielen würde. Vom Kopf her lebte sie so, als wäre sie selbst als Mann auf die Welt gekommen. Rief eine ihrer Halbschwestern an und bat sie um Rat â sie hatte ebenso viele neue Schwestern wie neue Daddys â, waren ihre Tipps immer praktisch, vorausschauend und hartherzig. »Verlass ihn, Darling«, sagte sie, oder: »Nimm ihn dir, wenn dir danach ist, erzähl es nur nicht deinem Mann«, ganz so wie es ihrer Meinung nach ein Kerl getan hätte. Ihre Kleider, vor allem ihre Kostüme, waren wie ironische Anspielungen auf das, was Männer in der City trugen. Selbst wenn sie ihre Beine zeigte, die, ehrlich gesagt, viel zu schön waren, um sie zu verhüllen, zeigte sie sie so, wie ein Mann sie vorzeigen würde â ein Fechtmeister oder ein Danseur noble â, um ihre Geschmeidigkeit und Kraft zu demonstrieren. Sie war launisch, trank wie ein Loch, lehnte Mutterschaft energisch ab, schwärmte für keinen Mann und hatte nichts dagegen, auf offener StraÃe gemustert zu werden. Doch in Wirklichkeit wurde sie ausgehalten, so wie femininere, weniger ehrgeizige Frauen seit Jahrhunderten ausgehalten wurden. Obwohl selbst »in Wirklichkeit« nicht alles so war, wie es schien. Im Gegensatz zu dem, was der groÃe Dichter gesagt hat, sind glückliche Familien keineswegs alle einander ähnlich.
Obschon ich von einer Offenbarung gesprochen habe, war mir das Gefühl, das mich in dem Hotelzimmer in Florida überkam, doch nicht völlig fremd, zumindest was seine Existenz im menschlichen Herzen betraf.
Als ich sechzehn war, nahm sich ein Kollege meines Vaters meiner an, Victor Gowan, ehemals erfolgreicher Verleger, der in der kurzen Zeit, in der ich ihn kannte, aus einem düsteren, lauten, baufälligen Bürogebäude gegenüber dem British Museum in ein Haus in Cookham zog, mit einem groÃen Panoramafenster und Blick über die Themse â Stanley-Spencer-Land. Mir erschien der Umzug wie ein Rückzug; ob Victor das auch so sah, weià ich nicht. Zum Zeitpunkt seiner Ãbersiedlung kann er höchstens fünfzig gewesen sein. Bei meinen Besuchen in seinem Büro zeigte er sich redselig und heiter, in Cookham introvertiert und traurig.
Den ganzen Tag auf einen Fluss zu gucken kann diese Wirkung haben, dennoch glaube ich nicht, dass der Fluss der Grund war. Irgendein Unglück, über das nicht gesprochen wurde, musste ihm widerfahren sein, denn die Bekanntschaft mit meinem Vater nahm ihren Anfang mit dem Verkauf seiner Bibliothek, Buch für Buch. Nicht der Bücher, die er verlegt hatte â daran hatten wir kein Interesse â, sondern seiner erlesenen Sammlung klassischer Texte, sowohl auf Griechisch und Latein als auch in Ãbersetzungen. Wie schon gesagt, ein Büchernarr, der seine Bücher veräuÃern muss, hat etwas Melancholisches. Jedes Buch, von dem man sich trennt, ist wie ein kleiner Tod. Deswegen hat so ein Geschäft wie das unsrige zwangsläufig etwas von einem Friedhof. Wir sind Bestattungsunternehmer, in jeder Hinsicht. Wir tragen schwarze Anzüge, treten leise auf und geben uns Mühe, die Auslöschung einer lebenslangen Leidenschaft, das Dahinschwinden eines alten Freundes so angenehm und würdig wie möglich zu gestalten.
In Victors Fall sah mein Vater ein, dass feierliche Riten hier nicht angebracht waren. Victor machte tapfere Miene zum bösen Spiel und baute darauf, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er in der Lage sein würde, wieder zurückzukaufen, was er an uns veräuÃert hatte, eine Selbsttäuschung, die mein Vater in unserem eigenen Interesse zu nähren gedachte. Zu diesem Zweck â ich sollte nicht so zynisch sein, denn ich glaube, es war auch echte Freundschaft im Spiel â traf sich mein Vater häufig mit Victor, suchte ihn manchmal in seinem knarzenden dickensschen Büro auf, mit mir im Schlepptau, und lud ihn später, nach Victors schmerzlichem Umzug, zu uns zum Essen ein, wenn er mal wieder in der Stadt weilte. Im Verlauf eines solchen Abends machte Victor den Vorschlag, dass ich ihn in Cookham
Weitere Kostenlose Bücher