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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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tatsächlich auf seinen Bildern zeigte, las sie alle zwei Wochen einem blinden Mann vor und sortierte viermal im Jahr die Kleidung aus, die sie nicht mehr tragen wollte, und schenkte sie einem Hospiz. Obwohl ich durchaus davon überzeugt war, dass sie ihre Arbeit gut machte – zweimal zum Beispiel hatte sie Bücher entdeckt, die auf einer Auktion bei Christie’s zusammengenommen über eintausend Pfund einbrachten; der blinde Mann war hingerissen von ihren Lesungen; Kunstliebhaber dankten ihr, weil sie ihnen die Augen öffnete für Dinge, die sie ohne sie nie gesehen hätten; und nur Gott allein weiß, wie viel Depressive sie freitagabends davon abhielt, sich die Pulsadern aufzuschneiden –, fand sie sich in den diversen Aktivitäten nicht wieder. Es tat ihr nicht leid um die Zeit (wie denn auch, angesichts der Menge an Zeit, die ihr insgesamt zur Verfügung stand), und sie nahm den Menschen, denen sie half, auch nicht die Bedürftigkeit übel (darin sah sie ihren eigenen Sinn und Zweck). Doch war sie bei alledem nicht persönlich beteiligt. Nur beim Tanzen, meinte sie, sei sie ganz bei sich. »Du sagst immer, beim Tanzen kämst du zu dir selbst«, sagte ich mal, »aber für mich sieht es eher so aus, als würdest du dich verlieren.« Sie lachte über das Paradox. Sie lebte nur außerhalb ihrer selbst. Wenn sie nicht tanzte, war sie in der Fremde, sprach mit einer Stimme, die nicht die ihre war, doch wo diese Fremde war und wessen Stimme sie sich ausborgte, hätte sie nicht zu sagen vermocht.
    Â»Marisa, wo bist du?«, hatte ihre Mutter früher gerufen.
    Â»Ich verstecke mich.«
    Â»Dauernd versteckst du dich, Marisa.«
    Sie hatte sich gehütet, altklug zu antworten: »Weil ich nicht will, dass du mich findest, Mummy.«
    Von ihrer ehrenamtlichen Arbeit abgesehen – das heißt, wenn wirklich sie diejenige war, die sie verrichtete – und dem vielen Tanzen, das sie in ihrer Freizeit unterbrachte, ließ sich nicht behaupten, dass sie eine viel beschäftigte Frau war. Nach ihrem Studium – das sie eher pro forma abgeleistet hatte, würde ich sagen, aber ich bin ein Snob, was Bildung betrifft – hatte sie, wie sie sich selbst ausdrückte, »nichts erreicht«. Das brauchte sie auch nicht. Es wurde immer gut für sie gesorgt. Ihr Vater, dem alle Bettengeschäfte in der Tottenham Court Road gehörten, ließ ihre Mutter sitzen, als Marisa fünf Jahre alt war. Das Kind verstand sehr genau, warum. Ihrer Mutter fehlte es an Urteilsvermögen. Schuld hatte zwar der Vater, weil er seine Frau viel zu oft allein ließ, doch gab das der Mutter keinen Freibrief, sich in jeden dahergelaufenen Mann zu verlieben und ihn Marisa jeweils als ihren neuen Daddy vorzustellen.
    Â»Warum liebt Mummy alle Leute?«, wollte sie von ihrem Vater wissen.
    Â»Mich liebt sie nicht.«
    Â»Aber früher doch, oder nicht?«
    Â»Ja, und dafür habe ich sie geliebt. Aber dann habe ich gemerkt, dass sie mich genauso geliebt hätte, wenn ich ein Beutel Murmeln gewesen wäre oder ein mit Bohnen gefüllter Sack, so wie dein Frosch Frenchie.«
    Hätte ihre Mummy sie wohl auch genauso gerngehabt, wenn sie mit Bohnen ausgestopft gewesen wäre wie ihr Frosch Frenchie?, fragte sich Marisa, während sie in ihrem Versteck im Kleiderschrank saß.
    Verstecken wurde schließlich ihre einzige Art der Verständigung. Um Marisa aus ihrem Kleiderschrank zu locken, musste ihre Mutter Geschenke für sie verstecken, musste ihre Kleider verstecken, ihr Abendessen. »Mal sehen, ob du findest, was ich für dich gekocht habe, Marisa.«
    Â»Was hast du denn für mich gekocht?«
    Â»Du musst es suchen, um es herauszufinden.«
    Â»Mal sehen, ob du mich findest, Mummy«, sagte Marisa darauf, mit dem Unterschied, dass sie ihr Abendessen finden wollte, aber nicht wollte, dass ihre Mutter sie fand.
    Â»Wenn sie doch nur meine neuen Daddys verstecken würde«, sagte sie zu ihrem alten Daddy, »da, wo man sie nicht findet.«
    An den Tag, an dem ihr Vater sie verließ, erinnerte sie sich gut. Sie erinnerte sich, wie er sie auf seine Schultern hob, wie sie auf seinen kräftigen kahlen kastanienbraunen polierten Kopf blickte und darin ihr Spiegelbild sah, ihre Einsamkeit, und sie erinnerte sich an seine Worte. »Egal, was sie zu dir sagt – Daddy verlässt Mummy, die er nicht liebt. Er sieht keinen Sinn mehr

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