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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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    Die Klassiker waren nur ein Vorwand. In seiner Jugend hatte Victor klassische Literatur am Balliol College studiert, und es war die Rede davon, dass auch ich das tun würde. Es wurde mir als für meine Zukunft zuträglich hingestellt, ein Wochenende mit ihm auf dem Land zu verbringen, mir seine Bibliothek anzusehen, von der noch viel übrig geblieben war, abends mit ihm zu speisen, mich mit ihm über Literatur zu unterhalten, vielleicht zu rudern und seine Frau kennenzulernen, eine ehemalige Schönheit und Biografin der Fitzrovia-Clique, Gerüchten zufolge die ehemalige Mätresse so einiger Fitzrovia-Schurken, heute jedoch, leider, ans Bett gefesselt. Joyce Gowan war zu gebrechlich, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder die für ihren Beruf nötigen Recherchen durchzuführen, empfing jedoch immer noch gerne Gäste in ihrem Haus.
    Ich will nicht so tun, als wäre mir die Aussicht auf ein Wochenende mit dem freudlosen Bekannten meines Vaters und seiner kranken Frau sonderlich verlockend erschienen. Mit sechzehn will man sich nicht in die Nähe von Menschen begeben, die fast alle Hoffnung aufgegeben haben. Aber obwohl ich mir dort kein Ereignis vorstellen konnte, das nicht von Trostlosigkeit gekennzeichnet wäre, kam mir der Ausflug wie ein Abenteuer vor. Ich packte meine Tasche, dachte daran, für das Abendessen Jackett und Krawatte und für das Rudern Sommerkleidung einzupacken, bestieg den Zug von Paddington nach Maidenhead und streckte Victor, als er mich am Bahnsteig abholte, wie ein erfahrener Reisender die Hand entgegen. Schlagartig sah ich meine Zukunft vor mir: mit dem Zug von einem Ende des Landes ans andere fahren, an ländlichen Bahnstationen aussteigen, meine Hand deprimierten Büchersammlern entgegenstrecken, die in die Jahre gekommen und gezwungen waren zu verkaufen, was ihnen lieb und teuer war. Schon fühlte ich mich ihnen verbunden, auch ohne sie alle zu kennen. Männer, denen das Leid um ihre Verluste ins Gesicht gemeißelt war.
    Während der Autofahrt nach Cookham sprach Victor über Stanley Spencer, das beherrschende Genie dieser Landschaft. Er war berühmt für einige, in seinen Augen wunderbare Wandbilder, auf denen Bewohner des Ortes zu sehen waren, von den Toten auferstanden, und für einige unerhört sinnliche Gemälde von sich und einer gewissen Patricia Preece, in die er rasend verliebt war. Allerdings werde allgemein angenommen, eine Vereinigung sei nie vollzogen worden, falls ich verstünde, was er meinte. Ich wollte ihm zeigen, dass ich sehr wohl verstanden hatte, was er meinte, und stellte die Vermutung an, ob es nicht vielleicht gerade die Tatsache sei, dass sie nicht vollzogen worden war, die seine Bilder so unerhört sinnlich machte. »Enttäuschung ist die Geburtshilfe der Fantasie«, sagte ich, »und dem Ausdruck zu geben, was einem verwehrt wird, ist ein starker Anreiz für die Entstehung von Kunst.« Vielleicht habe ich nicht genau diese Worte gebraucht, und selbst wenn, hätte ich ihren Sinn wohl kaum erfasst. Von der Welt der Leidenschaften hatte ich nicht die geringste Ahnung. Ich hatte nur viel gelesen, das war alles. Und ich war mit der Tochter eines Cellolehrers ausgegangen, die mich fallen gelassen, weil sie jemanden kennengelernt hatte, während ich mit ihr im Kino Händchen hielt. Aber wie viele Jungen meines Alters konnte ich gut bluffen.
    Victor lobte mich, soweit ich mich erinnere, für meinen frühreifen Scharfsinn und meinte, er könne sich nicht vorstellen, dass man mich nicht mit Handkuss in Balliol aufnehmen würde. (Was, auch wenn es für diese Geschichte unerheblich ist, tatsächlich der Fall war.)
    Danach ertappte ich ihn mehrmals dabei, wie er mich von der Seite musterte, als wäre er sich unsicher, ob es richtig gewesen war, mich einzuladen. Dann wiederum dachte er, dass es genau das Richtige war.
    Wenn er mich nicht von der Seite ansah, sah ich ihn von der Seite an. Er besaß ein imposantes Profil, das scheinbar in keiner Beziehung zu seinem Körper stand, der geradezu zierlich war. Allein auf seinen Kopf kam es an, und der war auf grandiose Weise verwahrlost, mit Tränensäcken unter den Augen, Haarbüscheln, die aus Ohren und Naselöchern wucherten, mäandernden Äderchen auf roten Wangen, als hätte er sich dem Landleben ausgesetzt, und mit Falten im Nacken, die anfingen, sich über den Hemdkragen zu wölben. Aus

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