Liebesfilmriss
nahm sie immer noch einen Stock auf und warf ihn in die Luft, bevor ihr klar wurde, dass es keinen Bellamy mehr gab, der das Stöckchen apportieren würde, was auf jeden, der sie zufällig dabei beobachtete, ziemlich verstörend wirkte.
Manch ein vorbeikommender Spaziergänger bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick.
Am liebsten waren sie immer am Strand entlanggelaufen. Während sie nun allein über den Sand schritt, hielt Ginny die Hände fest in den Taschen ihrer schwarzen Windjacke. Verheddert in einem Strang glänzenden Algen entdeckte sie ein Stück Treibholz, ideal zum Werfen. (Nicht aufheben,
nicht
aufheben).
O Gott, wie sehr sie Bellamy vermisste. Ohne ihn am Strand entlangzugehen war nicht dasselbe. Auch nicht ohne Jem. Jahrelang waren sie zu dritt durch die Wellen getobt, hatten wilde Spiele gespielt und Muscheln für das Fensterbrett in Jems Zimmer gesammelt.
Jetzt gibt es nur noch mich, dachte Ginny, starrte auf das Meer hinaus auf ein einsames Fischerboot, über dem Möwen ihre Kreise zogen.
Das Handy in ihrer Tasche klingelte.
»Mum?«
»Hallo, mein Schatz!« Binnen Sekundenbruchteilen waren Ginnys Lebensgeister neu belebt, als sie den Klang von Jems Stimme vernahm, gerade in dem Moment, als sie es am nötigsten brauchte. »Wie schön, von dir zu hören! Was machst du so?«
»Ach, du weißt schon, das Übliche. Haufenweise Arbeit. Langweilige Aufsätze, strenge Professoren … Hast du meine E-Mail von gestern bekommen?«
»Habe ich.« Jem hatte ein Foto an die Mail angehängt, von Lucy und sich auf dem Weg zu einer Party. »Und ich kann nicht glauben, dass du deine neuen Stiefel gar nicht trägst.« Wenn Jem etwas Neues kaufte, hatte sie die Angewohnheit, es die nächsten drei Monate ununterbrochen zu tragen.
Jem kicherte. »Tue ich doch.«
»Ich meinte die Over-Knees. Oh, du schlimmes Mädchen, sag nicht, du hast dir noch ein paar Stiefel gekauft.«
»Ich nicht, aber Rupert. Er mochte die Over-Knee-Stiefel nicht, darum hat er sie aus dem Fenster irgendwelchen Leuten nachgeworfen, die uns geärgert haben.« Jem musste immer noch darüber lachen. »Am nächsten Tag gab er mir Geld, um mir neue Stiefel zu kaufen. Du wirst es nicht glauben, er hat mir hundert Pfund in die Hand gedrückt!«
Ginny war aufgebracht. »Er hat sie einfach aus dem Fenster geworfen? Was für ein Mensch tut so etwas? Du hast diese Stiefel geliebt.«
»Und jetzt liebe ich die neuen. Ach, Mum, es war lustig, du hättest dabei sein sollen. Außerdem sahen meine alten irgendwie billig aus. Die neuen sind viel schöner. Ich trage sie gerade. Rupert findet sie toll. Er sagt, jetzt sehe ich nicht länger wie eine Nutte aus.«
Rupert war ein verwöhnter Bengel und noch dazu arrogant. Hätte er irgendwas von ihr aus dem Fenster geschleudert, Ginny hätte ihn gleich hinterhergeworfen. Als sie hörte, wie Jem, die normalerweise so vernünftig war, ihn eifrig verteidigte, spürte sie einen kalten Schauder über den Rücken laufen.
»Ist er noch mit seiner Freundin zusammen? Wie hieß sie doch gleich … Caro?«
»Nein. Sie haben sich getrennt.« Ginnys düstere Vorahnungen verstärkten sich. »Ich wollte nur fragen, wie es dir in deinem neuen Job so geht«, fuhr Jem fort. »Läuft es gut?«
Aha. Themawechsel. In den nächsten Minuten erzählte Ginny Jem alles über ihre erste Schicht gestern im Penhaligon, während Möwen über ihren Kopf kreischten. Finn war nicht dort gewesen, und sie hatte eine tolle Zeit gehabt. Es war schön, mit Evie und Martha zu arbeiten, das Küchenpersonal schien fleißig und fröhlich, und sie hatte die ersten Stammkunden kennengelernt.
Jem war entzückt. »He, Mum, ich freue mich für dich. Vielleicht sollte ich mal vorbeikommen.«
»Du musst ja leider arbeiten.« Ginny sprang zur Seite, als eine Welle auf sie zugeschwappt kam.
»O nein, deshalb rufe ich ja an.« Jem klang triumphierend. »Heute Morgen hat der Wirt angerufen – gestern Nacht gab es einen Rohrbruch unterm Dach, und das ganze Pub steht unter Wasser. Darum ist bis nächste Woche geschlossen. Das heißt, dass ich frei habe, und ich dachte, ich komme übers Wochenende zu dir, wenn es dir recht ist.«
Dieses Mal war Ginny so entzückt, dass sie gar nicht merkte, wie sich eine Welle über ihre Füße ergoss.
»Aber natürlich ist es mir recht. O Schatz, das sind phantastische Neuigkeiten. Ich kann es kaum erwarten!«
»Das kannst du nicht tun.« Als Jem aufgelegt hatte, kam Rupert aus der Küche. »Du darfst nicht nach
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