Liebesfluch
Trauerschleife gebunden ist. Es zeigt ein Baby, das genauso aussieht wie Bennie.
Ich halte einen Moment inne und spüre, wie ein beklemmendes Gefühl in mir aufsteigt. Ich muss an Stefan denken und wie er mir gestern Abend von dem Kind erzählt hat, das Anja und er verloren haben. Wie seine Stimme dabei geklungen hatte … Je länger ich das Foto anschaue, desto stärker wird in mir das Gefühl, das Bild wegdrehen zu wollen. Es kommt mir wie ein schlechtes Omen vor. Wie hält Anja es nur aus, jeden Tag dieses Bild zu sehen? Auf alle Fälle ist es nur verständlich, dass sie so um die Zwillinge besorgt ist.
Ich greife zögernd in die Richtung des gerahmten Bildes, doch dann schüttle ich entschieden den Kopf, schnappe mir das Notizbuch und drehe mich schnell vom Sideboard weg.
Mit Bennie auf dem Arm dauert es ein bisschen länger, bis ich endlich die Nummer von Stefans Fliesengeschäft finde. Er ist sehr bestürzt, als er erfährt, was passiert ist.
»In welches Krankenhaus haben sie Mia denn gebracht?«, fragt er.
Das habe ich nicht mitbekommen. Als er wissen will, ob es die Johanniter, Samariter oder das Deutsche Rote Kreuz waren, die mit dem Krankenwagen gekommen sind, habe ich auch keine Ahnung und fühle mich schrecklich unfähig.
»Wie kommst du mit Bennie zurecht? Wie geht es ihm?«
»Gut«, sage ich mit mehr Überzeugung, als ich habe, und zwinkere Bennie an, der jetzt hingebungsvoll an seinem Daumen lutscht. »Anja hat zwar gesagt, dass er kaum geschlafen hat, aber auf mich wirkt er ganz okay.«
»Das freut mich. Dann werde ich mich erkundigen, in welchem Krankenhaus sie gelandet sind, und gleich hinfahren. Wirst du zurechtkommen?«
»Klar«, sage ich. Wir verabschieden uns und ich lege auf. Dann erst fällt mir ein, dass Anja ihren Mann ja zu Hause haben wollte. Ob ich Stefan noch mal anrufen soll? Nein, lieber nicht, ich hab mich gerade schon genug blamiert. Erst weiß ich nicht, welche Ambulanz hier war und wohin sie Mia gebracht haben, und dann vergesse ich auch noch Anjas Anweisungen – das macht ja wohl alles andere als einen guten Eindruck.
Nachdem ich aufgelegt habe, fällt mir auf, wie still es im Haus ist. Nur Bennies schnaufendes Atmen ist zu hören und jetzt erst wird mir klar, dass ich wirklich ganz alleine hier bin. Millionen Kilometer weg von zu Hause. In einem Haus, dessen Räume ich noch nicht mal alle kenne. Ein Haus am Ende der Welt. Plötzlich frage ich mich, wo das andere Kind gestorben ist. Hier im Haus? Ob es krank war? Oder war es ein Unfall?
Ein merkwürdiges Nagen macht sich in meinem Magen breit. Mein Blick fällt erneut auf das Foto. Und wieder überfällt mich dieser merkwürdige Zwang, es gerne umdrehen zu wollen.
Jetzt hör auf zu spinnen, Blue, ermahne ich mich. Schau dir einfach die vielen anderen Fotos an.
Da ist das Hochzeitsfoto der Zeltners, offensichtlich aus den achtziger Jahren; das Brautkleid aus champagnerfarbener Spitze hat mächtige Schulterpolster und das prächtige Diadem der Braut steckt in einer dauergewellten Mähne. Anja lächelt nur ganz leicht, wohingegen Stefan strahlt, als ob er besoffen wäre vor Glück. Auf dem Bild sehe ich zum ersten Mal, was für eine merkwürdige Augenfarbe Stefan hat, hellbraun wie schimmlige Vollmilchschokolade. Die anderen Bilder zeigen Schwarz-Weiß-Porträts aus den sechziger Jahren und Mädchen in Miniröcken mit Schottenkaros vor Weihnachtsbäumen.
Diese Fotos anzuschauen, wirkt ungemein beruhigend. Alles ist so normal. So, wie es sein soll.
»Komm, Bennie«, flüstere ich, »schauen wir uns den Rest des Hauses an.« Wieso flüstere ich, was soll das denn? Schließlich sage ich ja nichts Verbotenes. Deshalb sage ich es noch mal, aber viel lauter. Seine großen Augen betrachten mich aufmerksam und ich finde es schade, dass er noch nicht sprechen kann.
Doch als ich vor der Treppe stehe, die nach oben führt, stelle ich fest, dass ich eigentlich gar nicht hierbleiben, sondern viel lieber rausmöchte. Irgendwie will ich nicht an der Zimmertür vorbeigehen, hinter der Mia vorhin in ihrem Bettchen gelegen hat, ohne zu atmen. Plötzlich legt sich die Verantwortung, die ich trage, wie ein schweres Gewicht auf meine Schultern. Vielleicht sollte ich Stefan doch noch mal anrufen und ihn bitten, nach Hause zu kommen? Was, wenn es Bennie plötzlich auch wieder schlechter geht und ich ganz alleine hier mit ihm bin? Der Gedanke beschleunigt schon wieder meinen Puls und ich beschließe, dass wir schell raus und auf andere
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