Liebesgruesse aus Deutschland
Schon bald verstummte der ganze Strand im Umkreis von hundert Metern. Alle horchten nur noch, wie die Eimerchen-Geschichte ausging, und wurden trotz strahlender Sonne immer blasser. Ein fremdes spanisches Kind stand schließlich auf und brachte das Eimerchen. Die Roboter-Mutter schmiss ihn wieder zurück. Das Kind solle es selbst bringen, meinte sie. Eine deutsche Nachbarin flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr.
»Erzählen Sie mir nichts über Erziehung, ich bin selbst Erziehungswissenschaftlerin!«, regte sich die Mutter auf. »Er wird das Eimerchen schon bringen, wir haben zwei Wochen Zeit.« Sie zog ihr weinendes Kind zu dem Eimer und steckte ihn wahlweise mal mit dem Bein, mal mit dem Kopf hinein, dazu wiederholte sie ihren berühmten Satz. Die Frau war offensichtlich krank.
Ein englischer Vater kam auf sie zu und hielt eine wütende Rede auf Englisch, dabei gestikulierte er stark und zeigte auf die vielen Leute, die um die Frau herum lagen und saßen. Trotz meiner schlechten Englischkenntnisse konnte der Sinn seiner Ansprache kaum missverstanden werden: »Wenn du blöde Kuh nicht sofort aufhörst, das Kind und die Menschen in deiner Umgebung zu quälen, bekommst du bald von jedem Urlauber hier mit dem Eimerchen eine übergebraten.« So in etwa, glaube ich, hatte sich der Mann – natürlich äußerst höflich – geäußert. Die Strandgesellschaft nickte zustimmend und unterstrich die Botschaft mit wilden Gesten. Die Erziehungswissenschaftlerin ließ sich jedoch nicht einschüchtern. »Geh und hol dir dein Eimerchen!«, sagte sie nur. Aber das Kind schien seiner Mutter in Sachen Trotz gewachsen zu sein. Obwohl fast noch ein Baby, hatte es sich bereits vorgenommen, lieber auf der Stelle zu sterben, als das Eimerchen auch nur anzusehen.
Der kompromisslose Kampf der beiden Dickköpfe ging also weiter. Weil niemand sich dieser Schau entziehen konnte, schlossen die Urlauber Wetten ab, wer gewinnen würde. Ich setzte wie meistens auf das Kind. Es war wie
beim Fußball: Plötzlich gab es zwei Parteien, der ganze Strandabschnitt teilte sich in zwei Fronten. Nach zwei Stunden kam allerdings eine große Welle und zerstörte das Spiel. Der Eimer verschwand für immer im Meer. Auf eine solche Entwicklung waren die beiden Seiten nicht vorbereitet, und eine ungewöhnliche Stille legte sich plötzlich über den Strand. Selbst das Kind und seine erziehungswissenschaftlich ausgebildete Mutter schwiegen minutenlang. Wir machten uns schon Sorgen, dass sich die beiden gar nicht mehr aus ihrer Starre befreien würden. Dann aber hörte man: »Hol dir deine Schaufel, hol dir deine Schaufel, hol dir deine Schaufel.« Das Kind fing wieder an zu weinen, und alle atmeten erleichtert auf.
GPS
Im internationalen Klischeevergleich haben die Deutschen und die Russen gegeneinander gerichtete Karten gezogen. Die Deutschen die Ordnung und die Russen die Anarchie. Wenn man diese angeblich volkstypischen Eigenschaften etwas genauer betrachtet, wird einem schnell klar: Sie sind beide aus dem gleichen Teig gebacken, aus dem Misstrauen gegenüber dem Nachbarn. In Deutschland hat es historische und geografische Gründe. Im engen Europa war der deutsche Wald schon immer dicht eingekesselt, von Fremden umzingelt. Ein Schritt nach links – Frankreich. Ein Schritt nach rechts – Polen. Man musste sich allein schon deswegen ordentlich in Reih und Glied aufstellen, um einander nicht aus dem Blick zu verlieren. Deswegen gelingen den Deutschen bis heute am besten gemeinschaftliche Sportarten und Massenaktionen, sei es Karneval, Oktoberfest, Love-Parade oder Bezirksevakuierung. Die Angehörigen anderer, weniger disziplinierter Völker fahren extra nach München oder in die Karnevalshochburg Köln, um deutsche Kollektivfeste zu bewundern.
Die Deutschen selbst halten ihre Art für nicht besonders
herausragend. Statt sich selbst zu bewundern, staunen sie über die »russische Seele«, ein Ausdruck für die russische Anarchie. Auch sie entspringt dem Misstrauen dem Nachbarn gegenüber. Dieses Misstrauen ist in Russland mit den Jahren nicht weniger geworden. Nach wie vor schreiben die Russen beispielsweise keinen Namen auf ihre Briefkästen, damit der Nachbar sie nicht denunzieren kann. Auch fragen sie nie nach dem Weg. Lieber gehen sie verloren, als einem Fremden zu erzählen, wohin sie wollen. Der Einzige, der sich in Russland immer nach dem Weg erkundigen kann, ist ein Ausländer oder jemand, der sich für einen Ausländer ausgibt.
Um das Vertrauen der
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