Liebeskind
wurde. Sie hatte Augen wie diese schon einmal in einem Buch gesehen. In einem medizinischen Wälzer über Geisteskranke eines früheren Jahrhunderts, Schwarzweißfotografien, die furchtbare Behandlungsmethoden, wie aus einem Gruselkabinett entsprungen, dokumentierten. Überhaupt ließ Elsa die ganze Szenerie hier an einen alten Horrorfilm denken. Verstaubt und verblichen, aber eindringlich; es wurde einem schlecht davon. Dabei waren die Räume in einer freundlichen hellgelben, abwaschbaren Farbe gestrichen. Nun streckte der Kobold eine seiner Krallen nach Elsa aus. Von Neuem glotzte er sie aus riesenhaften Augen an.
„Wer?“
Wiederum strampelten sich die Beine aus dem Bett heraus, doch Robin beugte sich über Vera, sodass sie nicht aufstehen konnte.
„Ich bin’s, Robin, dein Sohn. Und das hier“ – er zeigte auf Elsa – „ist deine Tochter Elsa.“
Die Augen des Kobolds füllten sich mit Tränen, sein Mund begann zu schreien. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, mit denen er auf Robin einschlug. Dieser versuchte, den Angriff so gut es ging abzuwehren.
„Drück auf die Klingel“, rief er Elsa zu. „Da, sie hängt neben ihrem Bett.“
Elsa fand den Knopf und presste ihren Finger so fest darauf, dass er ganz weiß wurde. Zwei Krankenschwestern kamen herein und meisterten die Situation mit routinierter Freundlichkeit. Sie hielten Vera an beiden Armen fest und sprachen beruhigend auf sie ein. Dann drückten sie den Oberkörper ihre Mutter sanft aufs Bett zurück.
Diesen Moment nutzte Elsa zur Flucht. Sie lief hinaus, am Ende des Gangs befand sich eine Tür, die nach draußen führte. Elsa stellte sich in den Wind und atmete tief ein. Die schneidend kalte Winterluft trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie fixierte die Dunkelheit vor sich, machte einen spärlich beleuchteten Weg aus, danach den Park. Elsa sah einen zugefrorenen Teich mit leeren Bänken an seinem Ufer und stellte sich vor, wie hier im Sommer die Alten unter Schatten spendenden Linden saßen, Enten fütterten, miteinander redeten oder spielten. Dann drehte sie sich um und stellte sich den Bildern hinter den Fensterfronten. Alte Frauen zumeist; manche schlichen an ihre Gehhilfen geklammert auf den Fluren herum. Drei von ihnen saßen schweigend in einer Sitzecke nebeneinander, warteten aufdie nächste Mahlzeit oder einen Besucher. Stille. Im Aufenthaltsraum lärmte es immerhin aus dem Fernseher, davor konnte Elsa die Zusammenkunft einiger lebender Leichnahme und einen langhaarigen Pfleger beobachten, der Aschenbecher säuberte. Die nächsten Fenster gaben den Blick auf den Speiseraum frei. Vierertische, fast wie in einem Hotel. Aber wo war der fesche Fred oder wie die Alleinunterhalter mit ihren Orgeln und Rhythmusmaschinen immer hießen? Hier gab es keinen Fred, dafür abgetragene Bademäntel, Schlappen, Urinbeutel, in mundgerechte Häppchen zurechtgestutzte Mettwurst- und Käsebrote, und dazu Lätzchen wie auf einem Kindergeburtstag. Elsa drehte sich um, der Park, der Teich, die Linden waren jetzt anders. Ihre Hände kribbelten, so als hätte sie in einen Kaktus gegriffen oder eine Herkulesstaude berührt, die ihren giftigen Saft auf ihrer Haut versprüht und schmerzhafte Blasen hinterlassen hatte. Sie lief in das Gebäude zurück und bis zu einer Tür, auf der „Waschraum“ stand. Dort stand eine alte Frau mit nacktem Oberkörper über eines der Becken gebeugt und wusch sich unter den Armen. Als sie Elsa bemerkte, entschuldigte sich die Greisin und begann ihre Bluse überzuziehen.
„Nein, bleiben Sie doch. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.“
Elsa trocknete ihre Hände an der Hose ab und trottete zu Vera zurück. Hier auf diesen Fluren, in diesen Zimmern, gab es kein Lachen. Was nützte da der Park. Eine zufällig zusammengewürfelte Mannschaft wartete, ein jeder für sich, auf den Untergang seines Schiffes. Vielleicht war Vera sogar zu beneiden, weil sie von alldem nur noch wenig mitbekam. Aber die freundliche Frau oder eine Mutter wie die von Doreen sollte niemals an einem solchen Ort sterben müssen.Wie viele Frau Possels mochte es hier wohl geben? Oder waren sie alle so wie Vera gewesen und erhielten am Ende genau das, was sie verdienten?
Als Elsa in das Zimmer zurückkam, war Robin gerade dabei, den Kobold mit klein geschnittenen Weißbrotstücken unter einer orangefarbenen Streichmettwurst zu füttern. Jetzt wirkte er ganz zufrieden, kaute mit offenem Mund, während Robin ihm das Gesicht mit einer Serviette abwischte
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