Liebeskind
und ihn so von den herausgefallenen Essensresten befreite. Zwischendurch gab er ihm eine Tasse mit rotem Tee, aus der er schlürfend trank.
„Ich komme so oft wie möglich zum Abendbrot hierher, damit Mutter überhaupt etwas isst. Sie scheint vergessen zu haben, wie das geht.“ Er schüttelte den Kopf, doch seine Stimme klang nachsichtig. „Wie ein kleines Kind ist sie geworden.“
„Warum machst du das? Dafür gibt es doch Personal.“
„Die Schwestern fangen jetzt mit ihrer Nachtrunde und dem Waschen an. Gleich können wir noch ein bisschen plaudern, bevor ich Mutter dann das Gebiss herausnehme und sie zu Bett bringe.“
Plaudern war Elsa jedoch nicht möglich gewesen. Sie hatte ihren Stuhl weit entfernt von Vera aufgestellt und ihrer Mutter, vor allem Robin zuliebe, noch einmal die Hand gestreichelt. Als dieser eine Waschschüssel zusammen mit einem grünen Froteelappen aus dem Badezimmer holte und eine Tablette Gebissreiniger in das Wasserglas fallen ließ, stand Elsa auf.
„Ich gehe schon mal vor. Vielleicht finde ich einen Arzt, der ein bisschen Zeit für mich hat.“
Endlich war sie draußen. Vor dem Ausgang des Altersheims schnappte Elsa nach Luft, als hätte sie die letztenStunden auf einem anderen Planeten verbracht, in einer viel zu dünnen, menschenfeindlichen Atmosphäre. Sie hatte sich bemüht, den Geruch von alten Körpern und deren Ausscheidungen, der von den antiseptischen Mitteln nur unzureichend überdeckt wurde, so wenig wie möglich einzuatmen. Dabei war dies nicht einmal das Schlimmste. Unerträglich hingegen war die leichte Süße verfaulenden Fleisches, der Geruch von Tod gewesen, der überall und auf allen Dingen gelegen hatte.
Nun kam auch Robin durch die Drehtür zu ihr nach draußen und sagte: „Ich glaube, sie hat sich über deinen Besuch gefreut. Wenn du öfter kämst, würde sie es dir bestimmt auch zeigen können.“
„Ich werde dir Geld schicken“, versprach Elsa. „Such dir jemanden zur Entlastung, damit du nicht jeden Tag dahin musst.“
„Ist deine Telefonnummer in Anspach noch immer dieselbe?“
„Ja, vielleicht komm ich bald mal wieder.“
Aber Elsa wusste, dass sie das auf keinen Fall tun würde. Jedenfalls nicht, solange Vera noch lebte.
In dieser Nacht fand Elsa nicht in den Schlaf. Sie fühlte sich von koboldhaften Augen verfolgt, die selbst dann nicht von ihr abließen, wenn sie sich dazu zwang, an etwas anderes zu denken. Elsa versuchte einen letzten Trick, indem sie sich auf die glücklichen Zeiten mit den Possels in ihrer Kindheit konzentrierte.
Zurückdrehen. Alles zurückdrehen. Wieder auf dem flauschigen Wollteppich sitzen und in Doreens Augen sehen, in denen so viel Zuversicht gestanden hatte. Die Gegenwart, die Zukunft, die ganze Welt war in diesen Augen gewesen. Es hatte kein Hin oder Her, nichts anderesals diesen Moment gegeben. Diese Augen waren der Spiegel gewesen, durch den Elsa sein konnte. Alles sein konnte. Die beste Freundin, liebenswert und geliebt. Geliebt im Spiegel dieser Augen. So war es einmal gewesen. Elsa starrte in das nächtliche Zimmer und drehte sich in ihrem Bett herum. War es so gewesen? Und wenn, warum hatte es dann aufgehört, so zu sein? Vielleicht hätte sie damals nicht so schnell aufgeben und stattdessen einen zweiten Versuch mit Doreen wagen sollen, überlegte Elsa. Möglicherweise konnte sie das auch heute noch tun. Aber würde dann alles anders und viel schöner werden, wenn Elsa es von Neuem wagte, Doreen als Freundin zu gewinnen? Würde es die schwarzen Lackschuhe nicht mehr geben, beim zweiten Versuch? Elsa schloss ihre Augen und atmete tief aus. Ja, zurückdrehen, am besten ganz an den Anfang. Bis zu dem Moment, in dem Elsa geboren werden würde, aber diesmal von einer anderen Frau. Von einer Frau, der es auch möglich wäre, ihr Mutter zu sein.
Halt, dachte Elsa, schlug die Augen auf und trank einen Schluck Wasser aus der Flasche neben ihrem Bett. Was für ein Denkfehler! Ihre Familie würde immer ihre Familie bleiben, ebenso wie Doreen Doreen bleiben würde, auch beim zweiten Versuch. Immer. Und darüber hinaus gab es nichts, was zurückzudrehen sich gelohnt hätte. Sie musste aufhören, sich etwas vorzumachen. Schluss mit dem Träumen. Voraus in den Gedanken, nicht zurück. Für Robin war sie nun fort. Mochte er sich vorher vielleicht noch gefragt haben, ob sie, Elsa, etwas mit den Morden an Torsten und Rainer zu tun hatte, jetzt würde er keinen Verdacht mehr schöpfen. Nur deswegen hatte sie seinen
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