Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebeskind

Liebeskind

Titel: Liebeskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Westendorf
Vom Netzwerk:
das Radio anschalten können. Elsa kauerte im Auto und hauchte ihre Hände an. Dann kurbelte sie den Sitz nach hinten und verstellte den Rückspiegel, damit sie sehen konnte, wenn sich im Haus von Doreen etwas tat. Elsa überlegte kurz, ob sie die Zeit vielleicht nutzen und den Weg bis ins Nachbardorf noch einmal mit dem Rad abfahren sollte. Denn drinnen sah es so aus, als würde man nun erst mit dem ausgedehnten Essen beginnen. Andererseits konnte sie nicht wissen, wann es wirklich so weit war und etwas passierte. Auch wenn das Warten an ihren Nerven zerrte, blieb Elsa daher, wo sie war. Es war bereits stockdunkel, als drüben endlich die Haustür geöffnet wurde. Im Schein der Außenbeleuchtung beobachtete Elsa einen Mann, der aussah wie die gealterte Version des wunderschön zerzausten Tischlers. In der einen Hand trug er eine Plastiktüte mit einem Weihnachtsmann darauf, in der anderen ein Dreirad. Hinter ihm ging eine adrette Brünette um die vierzig in einem grauen Wollmantel, unter dem auf schwarzem Grund eine dreireihige Perlenkette matt schimmerte.Ihre Haare waren wie in Beton gegossen, keine Strähne lag, wo sie nicht hingehörte. An der Hand der Frau hing ein Junge von vielleicht fünf Jahren in einem dunklen Matrosenanzug und zeterte. Nun erschien auch der Tischler unter der Haustür, und hinter ihm, die Arme um seine Hüften geschlungen, lugte Doreen hervor. Sie rückte gerade zur Seite, löste sich von ihrem Tischler und umarmte eine kleine, korpulente Frau mit weißem Haar. Doreen trug die Handtasche der Alten und half ihr die Stufen hinab. Am Blick der Weißhaarigen, der in diesem Moment in Elsas Richtung ging, erkannte sie, dass es Frau Possel sein musste. Frau Possel war dick geworden, sie hielt sich mit unsicheren Schritten am Arm ihrer Tochter fest, die andere Hand auf einen Stock gestützt. Doch ihr Lächeln war das alte geblieben, unverkennbar Irmgard Possel. Am liebsten wäre Elsa ihr jetzt um den Hals gefallen, aber wozu sollte das gut sein?

11
    Vera war wie die roten Ahornblätter, die sie als Kind zwischen Buchseiten gepresst hatte, dachte Elsa. Allerdings erst Jahre später, wenn man zufällig irgendein altes Buch aufschlug und einem dabei eines dieser Blätter entgegenflog. Trocken, ja, vertrocknet war ihre Mutter, Elsa sah die papierene Struktur ihrer Haut mit den durchschimmernden Adern. Vera war geschrumpft. Ihr Kopf war viel kleiner, als Elsa ihn in Erinnerung hatte, dafür schienen ihre Ohren und die Nase gewachsen zu sein. Mit riesenhaften Augen glotzte Vera ihre Tochter an, schien sie aber nicht zu erkennen. Das Haar trug Vera kurz geschnitten, wahrscheinlich war es für die Mitarbeiter des Altersheims praktischer so. Dabei war Vera früher immer so stolz auf ihre langen Haare gewesen. Von ihrem Bett baumelten die Enden grauer Gurte lose auf den Fußboden hinunter. Robin bemerkte Elsas Blick und erklärte: „Die werden gebraucht, um sie zu fixieren. Mutter ist früher oft nachts aufgestanden und herumgewandert, einmal sogar bis nach draußen in den Park. War ein Riesentheater, bis die Schwestern sie endlich gefunden haben.“
    „Und deshalb fesselt man sie jetzt?“
    „Denen fehlt hier einfach die Zeit, sich so um Mutter zu kümmern, wie sie es eigentlich tun müssten. Wenn du hiergeblieben wärest, hätten wir sie vielleicht nach Hause holen können. Aber allein schaffe ich das nicht.“

    Die Bewegungen ihrer Mutter waren hastig, so, als hätte ihr jemand einen Ruck gegeben. Sprunghaft wirkten sie, wie die eines Kobolds in einem Buch, geschrieben von Stephen King. Nein, das war nicht ihre Mutter, das war ein Kobold mit Veras Gesicht, der sich gerade wie eine professionelle Turnerin aus dem Bett herausschwang. Elsa blickte auf die langen, sehnigen Beine ihrer Mutter. Und was ging nur in Veras Kopf vor sich? Geräusche kamen aus ihrem Mund heraus, wurden nun langsamer, dunkler. Geräusche, die klangen wie ein Kinderkreisel, kurz bevor er aufhörte, sich zu drehen. Elsa hielt sich noch immer hinter ihrem Bruder Robin und ließ die Zimmertür dabei nicht aus den Augen. Robin schien keine Schwierigkeiten damit zu haben, das fremde Wesen vor ihnen auf die Wange zu küssen. Sanft umarmte er Veras hageren Körper, dann brachte er sie in das Bett zurück.
    „Schau mal, Mutter, du hast Besuch. Elsa ist da.“
    „Wer?“
    Die Geräusche hatten sich tatsächlich zu einem verständlichen Wort formiert. Elsa fühlte, dass sie erneut mit leerem Blick von dem unheimlichen Kobold angestarrt

Weitere Kostenlose Bücher