Liebeskind
Brachland zusammengeschrumpft. Auch von der großzügigen Villa, in der die freundliche Frau gelebt hatte, war kaum mehr etwas übrig geblieben. Nur noch ein paar Außenwände ragten wie bei einem kariösen Backenzahn schief aus der Erde heraus. Drumherum war ein rostiger Bauzaun aufgestellt worden. davor hing ein Schild mit der Aufschrift: „Grundstück zu verkaufen“. Die ehemals schönen Häuser in der Nachbarschaft der Villa hatten ebenfalls an Glanz verloren. Überall entdeckte Elsa kaputte Fensterläden, Holzflächen, die nach Farbe schrien, und bröckelnden Putz an den Fassaden. Sie hatte keine Ahnung, was hier geschehen war, aber dieser Straßenzug war offensichtlich schon seit Jahren in Auflösung begriffen. Bei ihrem Streifzug durch ihre Kinderwelt jenseits der Siedlung war Elsa vorhin einer älteren Dame in einem abgeschabten Wollmantel begegnet. Die Alte hatte nicht gelächelt, sondern nur mit leerem Blick etwas vor sich hin gemurmelt. Was wohl mit der freundlichen Frau geschehen war? War sie etwa dieser Alten ähnlich geworden? Wo lebte sie jetzt? Und würden sich ihre sauber gewaschenen Kinder heute um sie kümmern? Elsa stieg in ihren Wagen und ließ den Motor aufheulen. Das Vergangene war tot, es hatte keinen Sinn, immer wieder Rückschau zu halten. Hoffentlich war wenigstens Robin noch immer genau so, wie Elsa ihn in Erinnerung hatte. Immerhin wareneinige Jahre vergangen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Wie gern würde sie ihren Bruder jetzt in die Arme schließen. Ob sich in Robins Leben mittlerweile etwas verändert hatte? Vielleicht lebte er in der Zwischenzeit mit jemandem zusammen, Elsa hätte es ihm gegönnt. Sie nahm sich vor, ihren Bruder anzurufen, nachdem sie schon einmal hier in der Gegend war. Und sollten sich seine Lebensumstände tatsächlich verändert haben, könnten sie sich auch zur Not irgendwo anders treffen. An einem Ort, an dem sie ungestört waren. Aber würde sich Robin überhaupt freuen, wenn Elsa ihn besuchen käme?
„Wie siehst du denn aus?“
Unter Bens rechtem Auge befand sich eine blutige Stelle, die Haut darüber war aufgeplatzt und gerade dabei, sich bläulich zu verfärben. Ben sah seine Mutter grimmig an, während Anna mit Erstaunen registrierte, dass Paul mit einem Kühlkissen in der Hand aus der Küche zu ihnen herüberkam, das er sorgfältig mit einem Geschirrhandtuch umwickelt hatte und nun seinem Bruder reichte.
„Hast du gewonnen?“
Ben gab Paul einen zärtlichen Nasenstüber.
„Dafür sind es zu viele gewesen.“
„Aber du hast doch einen umgehauen, oder?“
„Klar, Mann.“
Anna versuchte, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. Das machohafte Gehabe ihres Nachwuchses ging ihr, wie immer, auf die Nerven.
„Was ist mit deinen Sachen, Ben?“
Er schwieg.
„Du sagst mir jetzt sofort, wer dir den Rucksack weggenommen hat!“
„Ein paar Jungs aus der Neunten.“
Ben hatte sich dafür entschieden, sein Problem auf jeden Fall ohne die Hilfe seiner Eltern zu regeln.
Anna schüttelte den Kopf und setzte einen Topf mit Wasser auf. Sie sah zu, wie sich auf dessen Boden nach einer Weile Blasen bildeten, langsam aufstiegen und dann wie wild zu blubbern anfingen. Auch in ihrem Inneren gärte es mächtig vor sich hin, diese Sache mit Ben machte ihr große Sorgen. Das Wasser kochte gerade über und ergoss sich zischend auf die Herdplatte, Anna stellte den Abzug auf die höchste Stufe. Dann schüttete sie kurze Makkaroni in den Topf und fing an, eine Tomatensoße für die Jungen zuzubereiten.
Sigrid Markisch musste mit den Hühnern aufgestanden sein, denn als Anna an diesem Morgen das Büro betrat, war ihre Kollegin bereits dort eingetroffen. Immerhin hatte sie sich nicht an Anna Greves Schreibtisch gesetzt, sondern stattdessen einen Hocker neben Webers Platz geschoben. Nach einem kurzen Nicken in Annas Richtung folgte sie weiter interessiert Webers Vortrag. Dieser versuchte gerade, Thomas Bertram die Vorgehensweise bei Personenfahndungen zu erklären, doch ein Blick in das irritierte Gesicht des Jungen zeigte deutlich, dass diesem Bemühen wahrscheinlich kein allzu großer Erfolg beschieden sein würde. Anna ging zur Fensterbank hinüber und nahm sich einen Kaffee. Der war allerdings so stark, dass sie aus alter Gewohnheit einen Berg Zucker in die Tasse nachlöffelte. Die Kommissarin überlegte gerade, ob der Neue ihn vielleicht gekocht haben mochte, als Antonia Schenkenberg hereinkam.
„Ich habe mir erlaubt, noch ein zweites
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