Liebeskind
Zum Glück war sie nicht auch noch eine von den stillen, blassen Mäusen. Warum musste Carolin auch immer Widerworte haben? Was machte es ihr so schwer, zuzugeben, dass Elsa Recht hatte?
„Kommissarin Markisch für Sie.“
Weber drückte Anna Greve das Telefon in die Hand und wandte sich dann wieder Thomas Bertram zu, der vornübergebeugt an seinem Schreibtisch saß und umständlich auf die Tastatur des Computers einhämmerte.
„So geht das nicht, versuchen Sie es hiermit“, grummelte Weber, während er dem jungen Mann eine andere Tastenkombination zeigte. Lukas Weber sah dabei nicht gerade glücklich aus.
Anna führte den Hörer zum Ohr.
„Tag, Frau Greve, es gibt Neuigkeiten. Der Rechtsmediziner sagt, dass Torsten Lorenz erst nach seinem Todkastriert worden ist. Außerdem ist an den Halterungen des Regals herummanipuliert worden.“
„Also doch. Arbeiten wir also zusammen?“
Sigrid Markisch zögerte. „Das kann ich so noch nicht sagen, aber ich bespreche die Sache mit meinem Chef. Ich melde mich wieder.“
Die scheint sich ziemlich wichtig zu nehmen, dachte Anna, als sie den Hörer auflegte. Dann ging sie zu Weber hinüber und klopfte ihm auf die Schulter.
„Kommen Sie, wir gehen auf einen Kaffee in die Kantine rüber.“
Betreten sah Weber auf seine Schuhspitzen.
„Herr Bertram übernimmt solange das Telefon. Er kommt für eine halbe Stunde bestimmt auch ohne Sie klar“, meinte sie mit einem Kopfnicken in Richtung des neuen Kollegen, der nach wie vor einen ziemlich hilflosen Eindruck machte.
Schweigend hatte sich Weber zusammen mit Anna in die Schlange der Essensausgabe eingereiht, doch nachdem er eine große Portion Gulasch mit Nudeln vertilgt hatte, entspannte sich sein Gesicht endlich wieder.
„Ich dachte immer, junge Leute kennen sich gut mit Computern aus. Dieser Bertram scheint da allerdings eine Ausnahme zu sein. Leider habe ich mich in ihm getäuscht, denn zu Anfang hat er sich wirklich clever angestellt. Trotzdem, Sie sind nicht sehr freundlich zu ihm, Anna.“
Die Kommissarin wusste, dass Weber Recht hatte, schließlich trug der Junge keine Schuld am Durcheinander der letzten Tage.
„Kennen Sie die Giraffe eigentlich näher?“ Als Anna in Webers fragendes Gesicht sah, fügte sie an: „Damit meine ich Frau Markisch.“ Beim Gedanken an den langen Hals derKommissarin aus Hannover konnte sie sich das Lachen nicht länger verkneifen. Auch Weber prustete los. Er verschluckte sich an seinem Nachtisch und musste anschließend all die versprühten, kleinen Obststücke von der Tischplatte in seine Serviette hineinwischen.
„Wirklich Anna, was für ein Vergleich.“
Webers Stimme klang noch immer brüchig. Jetzt räusperte er sich und wollte gerade antworten, als Günther Sibelius an ihren Tisch herantrat. Er hatte wieder angefangen zu rauchen und bot Anna eine Zigarette an.
„Wir bekommen Unterstützung aus Niedersachsen, Frau Greve. Die Kollegin Markisch hat mich gerade angerufen und angeregt, in diesem Fall zusammenzuarbeiten. Sie wird uns ab morgen zur Verfügung stehen.“
Frau Markisch hatte also angeregt! Anna spürte ein leichtes Stechen in ihrer Schläfe. Hoffentlich hatten sie sich mit dieser Frau kein Kuckucksei ins Nest gelegt.
Ein seltsames Gefühl, der alten Heimat so nah zu sein. Wobei – eigentlich nur dem Ort, in dem Elsa aufgewachsen war. Denn so etwas wie eine Heimat oder ein Zuhause hatte sie nie wirklich gehabt. Elsa ging durch die Straße, in der sie früher gewohnt hatten, und überlegte, wie lange sie ihre Mutter Vera nicht mehr gesehen hatte, aber es wollte ihr nicht einfallen. Die Gedanken an sie hinterließen schon seit Langem keinerlei Emotionen mehr in ihr. Der Einzige, zu dem Elsa all die Jahre über Kontakt gehalten hatte, war ihr Bruder Robin. Einmal hatte er sie sogar in ihrer Wohnung im Taunus besucht. Robin war ihr sowieso immer der Liebste von allen gewesen. Ganz im Gegensatz zu Miriam, der kleinen Prinzessin. Ihre Schwester hatte es von jeher viel zu gut verstanden, sich Gehör zu verschaffen. Lebte Miriamaußerdem nicht mittlerweile in Kanada oder in Südafrika? Elsa erinnerte sich nicht, und es hatte auch keinerlei Bedeutung für sie. Hauptsache, das kleine Miststück war weit genug fort von hier. Überhaupt war nichts mehr, wie Elsa es in Erinnerung hatte. Die Häuser, dicht aneinandergelehnt, wirkten jetzt viel kleiner als früher. Der Garten, in dem Robin seine Höhlen gebaut hatte, war auf zwei mal zwei Meter von Unkraut überwuchertes
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