Liebeskind
Dienstbesprechung entschied Günther Sibelius, Paulas Hinweis unbedingt nachzugehen. Eine Nachfrage bei Hilde und Paul Herold hatte zudem ergeben, dass Torsten Lorenz früher tatsächlich ein Freund ihres Sohnes gewesen war. Der Beste, den er je gehabt hatte.
„Fahren Sie nach Hannover, Frau Greve. Wir müssen sehen, ob es eine Möglichkeit zur Zusammenarbeit gibt. Weber bleibt derweil hier und kümmert sich weiter um unseren neuen Mitarbeiter. Macht mich nervös, der Mann.“
Anna Greve stand auf dem Flur des LKA Hannover und wartete auf die für den Mordfall in Maschen zuständige Kommissarin. Pünktlichkeit schien nicht gerade zu den Tugenden ihrer Kollegin zu gehören, denn ihr Termin war bereits vor einer halben Stunde angesetzt gewesen. Endlich öffnete sich eine Tür, und Anna wurde von einer Frau begrüßt, die ihr vom ersten Augenblick an nicht besonders sympathisch war. Sigrid Markisch war sehr schlank, ungefähr fünf, vielleicht sogar sieben Jahre jünger und viel größer als ihre Hamburger Kollegin. Auf ihrer Nase saß das, was Anna Greve eine Zickenbrille nannte. Schmale Gläser, in Form von sich zu den Bügeln hin verjüngenden Dreiecken. Das Gestell war aus schwarzem Kunststoff und wirkte wie ein Balken mitten in ihrem ernsten Gesicht.
Anna stellte sich vor, dann informierte sie Sigrid Markisch kurz über den Grund ihres Besuches.
„Wir ermitteln im Mordfall Rainer Herold, ein Mann, der bei uns in Hamburg am ZOB tot aufgefunden wurde. Wahrscheinlich gibt es eine Verbindung zwischen diesem Verbrechen und Ihrem Toten aus Maschen.“
„Und die wäre?“
„Die Opfer haben einander gekannt. Mehr noch, sie sind gut miteinander befreundet gewesen, beide stammen aus demselben Ort, nämlich aus Maschen. Rainer Herold wurde erstochen, ist aber nach seinem Tod ebenfalls verstümmelt worden, genau wie Torsten Lorenz. Das könnte auf die Handschrift desselben Täters deuten.“
Sigrid Markisch vertiefte sich in die Akte auf ihrem Schreibtisch.
„Wir wissen noch nicht, wie sich die Tat abgespielt hat, und werden erst einmal die Untersuchungsergebnisse abwarten müssen.“
Anna Greve versuchte ein gewinnendes Lächeln. „Rufen Sie mich an?“
Doch Sigrid Markisch erwiderte das Lächeln nicht. Und als sie aufstand, um Anna zur Tür zu bringen, schaute sie von oben herab auf ihre Kollegin hinunter.
„Ich werde mich bemühen, Sie auf dem Laufenden zu halten.“
Blöde Kuh, dachte Anna und machte damit ihrem Unmut Luft, als sie auf dem Rückweg zu ihrer Dienststelle kurz an einem Supermarkt Halt machte, um etwas Käse für das Abendbrot einzukaufen. Dessen ungeachtet hatte sie die ganze Fahrt über das arrogante Gesicht der Kollegin aus Hannover vor Augen.
An diesem Abend saß Ben nicht als Erster am Abendbrottisch und wartete wie sonst darauf, dass seine Mutter endlich mit den Vorbereitungen fertig war. Stattdessen wühlte er in der Speisekammer herum, aus der er mit einem Vollkornmüsli zurückkam, das er normalerweise keines Blickes würdigte. Umständlich fuhrwerkte er anschließend am Verschluss der Milchflasche herum, als Paul auf einmal herausplatzte: „Ben ist beklaut worden.“
„Halts Maul, Arschloch.“
Das war es also! Bens Wortkargheit der letzten Tage war zwar auffällig gewesen, doch Anna hatte es einem neuen Schub der Pubertät zugeschrieben. Tom stand auf und versuchte, seinem Sohn mit dem Verschluss zu helfen.
„Was ist denn passiert?“, fragte er vorsichtig an.
Anstatt seinem Vater zu antworten, riss Ben ihm die Flasche wütend aus der Hand. Dabei verschüttete er etwas Milch auf dem Fußboden. Ein abweisender Blick traf Tom und Anna.
„Ich werde schon allein damit fertig.“
„Sie haben seinen Rucksack mit den neuen Basketballsachen abgezogen.“
Paul konnte es offensichtlich nicht lassen, Tom und Anna die Geschichte des Beutezugs zu erzählen, obwohl sie nicht seine eigene war.
„Sei ruhig und lass deinen Bruder reden.“
Anna gab ihrem Impuls jetzt nicht nach, Ben in den Arm zu nehmen. Früher war es leicht gewesen, ihn zu trösten. Aber nun sagte sie nichts, sondern schaute ihn nur weiter abwartend an.
„Haltet euch bloß raus da, ihr macht es sonst nur noch schlimmer.“
„Wer ist es gewesen, Ben?“
„Kennt ihr nicht.“
Er stand auf, knallte die Küchentür hinter sich zu und rannte in sein Zimmer hinauf. Tom und Anna blieben ratlos zurück. Für sie war klar, dass, wenn sich ihr Sohn jetzt nicht wehrte, die Diebe ihn vielleicht nie mehr in Ruhe
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