Liebeskind
sie zum Ausgleich dafür doch der Liebling des Vaters gewesen. Robin aber hatte immer nur zwischen allen Stühlen gesessen. Vielleicht von jedem gemocht, aber niemandes Liebling.Wie kam es eigentlich, dass Elsa sich so furchtbar wichtig nahm?
Nachdenklich ging Robin die Auffahrt zum Altersheim hinauf. Er beschloss, sich auf Vera zu freuen, doch vor allem wollte er für den Rest des Tages nicht mehr über seine Schwester Elsa nachdenken.
Elsa in Maschen, im Herbst 1985.
„Wir müssen mit dir sprechen, Elsa. Robin, heute Abend wirst ausnahmsweise einmal du deiner kleinen Schwester die Gutenachtgeschichte vorlesen.“
Der Vater schenkte sich ein Bier in sein dickwandiges Glas mit dem klobigen Zinndeckel, dann sah er erwartungsvoll zu seiner Frau hinüber. Vera räusperte sich.
„Ja, also, Papa hat mir von deinen seltsamen Verletzungen erzählt.“
Automatisch zog Elsa ihre Pulloverärmel tiefer herunter und sah ihre Mutter herausfordernd an.
„Vom Bettkasten sind die jedenfalls nicht, ich habe mir die scharfe Kante angesehen. Die macht nicht mehr als ein paar kleine Kratzer. Was ist nur los mit dir?“
Nie ließen sie einen in Ruhe, dachte Elsa. Immer wollten sie alles wissen und am besten ganz genau. Was sollte sie ihnen jetzt sagen, wo sie doch selbst nichts wusste. Elsa nahm sich noch eine Scheibe Schwarzbrot, beschmierte sie fingerdick mit Butter und fing an zu kauen.
„Ich bin müde, morgen habe ich eine Mathearbeit. Kann ich in mein Zimmer?“
„Wenn du uns sagst, warum du dir diese Wunden zufügst, kannst du gehen. Vorher nicht.“
Jetzt schmiss Elsa den Rest des Brotes auf ihren Teller zurück.
„Ihr habt doch keine Ahnung, aber echt. Wenn ich mir die Aufgaben nicht noch ein bisschen reinpauke, schreib ich morgen wieder ’ne Fünf.“
Friedrich war aufgestanden und versuchte, seine Tochter in den Arm zu nehmen. Als er jedoch Elsas Widerstand spürte, ließ er von ihr ab.
„Wir wollen dir doch nur helfen.“
„Dann erkläre mir, warum ich diesen ganzen Mist lernen soll. Der kostet viel Zeit und ist zu nichts gut.“
Friedrich wusste nicht, wie er reagieren sollte, und Vera war ihm auch keine Hilfe. Seine Frau fing gerade an, den Tisch abzuräumen. Scheppernd landeten die Teller auf dem Tablett.
„Ich hab dir doch gesagt, dass es keinen Sinn hat, Friedrich. Aber du wolltest ja wie immer nicht auf mich hören.“
Die Küchentür flog auf, dann war Vera verschwunden.
Friedrich versuchte es noch einmal.
„Ich weiß, du hast es nicht leicht mit deiner Mutter. Wollen wir denn nächsten Samstag etwas zusammen unternehmen? Nur wir beide allein?“
Der bestellte Bierautomat war noch immer nicht im Flur des Kommisariats aufgestellt worden, aber dafür lief ein aufgeregter Günther Sibelius vor den Büros auf und ab. Hätte man ihm Bürsten unter die Sohlen seiner Schuhe geschnallt, hätte er den Fußboden damit bohnern und die Putzfrau für einen Tag bei ihrer Arbeit entlasten können. Anna sah Günther Sibelius wild gestikulieren, und als sie näher kam, konnte sie auch hören, dass er mit sich selbst sprach.
„Chef?“
Er fuhr herum. Als er Anna sah, hellte sich sein Gesicht auf.
„Frau Greve, gut, dass Sie da sind. Schönauer hat in einer Stunde eine Besprechung angesetzt. Außer der Reihe, offiziell vorstellen will er sich dann in den nächsten Tagen. Ich lege Wert darauf, dass unsere Abteilung bei dieser Veranstaltung vollzählig vertreten ist. Geben Sie das an Weber weiter.“
Anna kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, denn schon hatte Sibelius sich umgedreht und mit schnellen Schritten den Rückweg in sein Büro angetreten. Während Anna kurz darauf an ihrem Schreibtisch saß und gerade ihre E-Mails abrief, kam Weber herein, wenig später folgte auch die Giraffe. Anna frohlockte, vielleicht würde der Moment, in dem Sigrid Markischs Zukunftspläne für Hamburg zerschlagen werden würden, ja schon viel eher kommen, als sie gedacht hatte.
„Martin Schönauer will uns heute Morgen die Ehre geben. Sie sind doch auch mit dabei, Frau Markisch?“
Martin Schönauer steckte in einem eleganten, dunkelgrauen Anzug. Dessen Jacke war schmal geschnitten, betonte seinen muskulösen Körperbau und saß perfekt. Darunter schimmerte matt ein hellgrauer Rollkragenpullover aus Seide. Fast eine Spur zu elegant für einen Beamten, fand Anna. Sie hob den Blick und sah in ein gebräuntes, jugendlich wirkendes Gesicht um die vierzig. Darüber dichtes, braunes Haar mit einem wie gefönt wirkenden
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