Liebeskind
atmete Anna tief in den Bauch ein, was in diesem Moment jedoch überhaupt nichts half. Einmal mehr fühlte sie sich in Sigrid Markischs Gegenwart wie ein Fisch auf dem Trockenen.
„Gehen wir an die Arbeit zurück“, erwiderte sie daher nur leise.
Für diesen Tag war wegen vieler Lehrerkonferenzen und Klassenarbeiten bedauerlicherweise kein Termin mehr mit dem Schulleiter des Merschenfelder Gymnasiums zustande gekommen. Es war das Gymnasium, in dem Rainer Herold und Torsten Lorenz die Jahre bis zu ihrem Abitur verbracht hatten und daher auch der Ort, an dem Anna weitere Hinweise und Spuren zu den Morden zu finden hoffte. Wo also sollten sie stattdessen nun den Rest des Tages über ermitteln?Am Schreibtisch würde Anna die Spur, nach der sie so beharrlich suchte, jedenfalls gewiss nicht finden. Vielleicht jedoch in Maschen. Dem Dorf, in dem alle, die bislang irgendetwas mit diesem Fall zu tun hatten, aufgewachsen waren. Rainer Herold, Torsten Lorenz, Dirk Adomeit, Paula und möglicherweise sogar die Mörderin. Und das Zentrum des Dorfes war noch immer das Wirtshaus.
„Wie wäre es mit einem späten Mittagessen im „Maschener Hof“? Kommen Sie, Weber.
7
Elsa in Maschen, im Herbst 1985.
Noch hingen die Kastanien prall am Baum. Ihre stacheligen Schalen waren weit geöffnet, doch schon bald würde ein kräftiger Windstoß die Früchte zu Boden fegen. Wie sehr hatte sich Elsa früher immer auf diese Zeit gefreut. An einem stürmischen Herbsttag schon mal die letzte Schulstunde ausfallen lassen, nur um vor den anderen auf der Wiese zu sein. Um dann durch das von Blättern bedeckte Gras zu gehen, die Augen suchend auf der Erde, bis es braun aufblitzte. Noch schöner war es jedoch gewesen, eine noch geschlossene Frucht zu finden. Vorsichtig die Schale aufzubrechen und die weiße Haut von den schimmernden, glatt polierten Kastanien zu schälen.
An diesem Tag war es windstill. Heute einen Ast zu nehmen, um welche vom Baum zu schlagen, war nicht mehr dasselbe. Das Gras im Garten der freundlichen Frau sah braun und struppig aus, fast wie das Fell eines streunenden Hundes. Unter dem Ahorn lag ein Haufen rotgezackter Blätter. Sie waren wunderschön. Wunderschön, kurz bevor sie endgültig vergingen; zu schleimiger Masse, auf der man ausrutschen konnte, und dann zu Erde wurden. Elsa bückte sich und steckte ein paar von ihnen in ihre Manteltasche. Zu Hause würde sie die Blätter zwischen Buchseiten legen und, wenn sie getrocknet waren, in durchsichtige Folie einschlagen. Das Rot würde dann weniger rot sein und auch nicht mehr so schön, aber die verletzliche, papierene Struktur, die sie bekamen, war erst einmal das Leben aus ihnen herausgepresst, würde Elsa mitten ins Herz treffen. Die hölzerne Liege mit ihrer flauschig weißen Auflage, auf der die freundliche Frau gelegen hatte, stand jetzt wohl irgendwo winterfest verpackt in einem der Schuppen herum. Elsa sah zu ihrem Lieblingsfenster hinauf, es brannte kein Licht darin. Nirgendwo in der ganzen Villa brannte Licht. Stattdessen war es totenstill, totendunkel, tot. Waren die Bewohner der Villa etwa auch tot? Oder fortgezogen? Wo war die freundliche Frau? Wo ihre sauber gewaschenen Kinder? Machten sie vielleicht Ferien in einem südlichen Land? Um dort die letzten Sonnenstrahlen einzufangen, bevor es hier endgültig Winter werden würde?
Auf ihrem Weg zurück musste Elsa am Haus von Doreen vorbei. Sie nahm sich vor, vorüberzugehen und auf nichts zu achten. Die Augen fest auf ihre Füße und das Muster der Gehwegplatten gerichtet, riskierte sie im allerletzten Moment dann doch einen Blick. Da stand der dunkelblaue Motorroller von Doreens Onkel Heinz. Und davor drei Autos mit dem Peiner Kennzeichen, Verwandte von Herrn Possel. Das Haus war hell erleuchtet. Aus dem geöffneten Wohnzimmerfenster wehten Wortfetzen zu ihr heraus. Die Schlagermusik war laut, jetzt konnte Elsa sogar fast den ganzen Text verstehen. Da sang ein Mann mit einer merkwürdig hohen Stimme, im Hintergrund machten Frauen „lalala“ dazu. Eine Liedzeile ging ungefähr so: „Ich will der Knopf an deiner Bluse sein, lalala.“ Nun fingen sie drinnen zu lachen an, ein Prosit der Gemütlichkeit. Geburtstagsstimmung. Aber was machte Elsa heute überhaupt auf der Straße? Friedrich hatte ihr doch versprochen, diesen Tag mit ihr zu verbringen. Nur mit ihr allein. Warum konnten Väter nie halten, was sie versprochen hatten? Es war schließlich seine Idee gewesen, Elsa wäre von allein niemals darauf
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