Liebeskind
Wesentliche zu achten. Denn selbst wenn es zwischen dem Mädchen von früher und der Frau von heute auf den ersten Blick keinerlei Ähnlichkeit mehr zu geben scheint, bleibt doch immer etwas unverwechselbar Spezifisches erhalten. Kein Mensch kann zu einer völlig anderen Persönlichkeit werden, das ist unmöglich. Der Ausdruck von Augen ändert sich schwerlich. Und was ist mit den Händen? Dem Geruch oder dem Gang eines Menschen? Das sind doch unverwechselbare Merkmale, Weber.“
Sie aßen noch eine Kleinigkeit, dann trennten sich ihre Wege. Anna starrte in den sternenlosen Abendhimmel. In einer Großstadt gab es keine richtige Dunkelheit, nur eine andere Art von Beleuchtung. Künstliches Licht, das harte Kontraste und tiefe, manchmal erschreckende Schatten schaffte. In diesem Licht war Rainer Herold gestorben. Was mochte er wohl noch gesehen haben, so kurz vor seinem Tod?
„Wird auch Zeit“, maulte Ben, als Anna die Haustür aufschloss und er sie missmutig dabei beobachtete, wie sie Mantel und Winterstiefel auszog.
„Ich dachte, dich interessiert, was heute mit Flo gewesen ist, schließlich willst du doch unbedingt mit ihm reden. Aber wenn es konkret wird, bist du nie da.“
Anna seufzte.
„Moment, ich komme gleich.“
Anna ging in die Küche und setzte Wasser auf, um sich einen Tee zu kochen. Minuten später kam sie mit ihrem Becher ins Wohnzimmer und legte sich auf das frei gebliebene Sofa. Der Fernseher lief in ohrenbetäubender Lautstärke. Ben und Tom saßen nebeneinander auf der blauen Couch und schauten sich die Übertragung eines Eishockeyspiels an.
Nun griff Tom nach der Fernbedienung und stellte den Ton ab. Anna registrierte verärgert, dass es sowohl Ben als auch ihrem Mann dennoch offensichtlich schwer fiel, ihre Augen von den bewegten Fernsehbildern zu lösen.
„Ben hat mit Florian gesprochen, Anna.“
„Ja genau, aber bitte nicht jetzt, Mama. Ich gehe kurz nach oben und sehe mir das Spiel zu Ende an.“
Er zog sich seine Hausschuhe an, worauf Tom den Fernseher ganz ausmachte und ihn zum Bleiben aufforderte: „Nein, Ben, wir reden jetzt miteinander.“
„Immer muss es nur nach deiner Nase gehen, Mama!“, wandte sich Ben wütend an Anna. „Wo kommst du überhaupt so spät noch her?“
Tom legte seine Hand beruhigend auf Bens wippende Beine.
„Deine Mutter ist erwachsen, außerdem hat sie gearbeitet.“
„Wenn ihr nicht mehr weiterkommt, zieht ihr euch also darauf zurück, dass ich ein paar Jahre jünger bin als ihr. Dabei habt ihr immer gemeint, dass in unserer Familie jeder gleich behandelt werden soll.“
Anna versuchte ein Lächeln.
„Das stimmt, aber ich rauche schließlich auch keine Joints und lasse das Gras demonstrativ in meinem Zimmer herumliegen. Also, was hat Florian denn nun gesagt?“
„Er will sich morgen Abend um acht auf dem Parkplatz vor der Feuerwehrwache mit dir treffen, wenn du Zeit hast. Flo hat furchtbare Angst davor, dass du seinen Eltern etwas erzählen könntest. Das machst du doch nicht, oder?“
„Das kommt darauf an, Ben. Versprechen kann ich es nicht.“
„Du musst es mir aber versprechen. Warum habe ich dir überhaupt von der Sache erzählt, wenn du mir jetzt in den Rücken fällst? Kannst du nicht einfach alles so lassen, wie es ist? Immer musst du bestimmen, wo es langgeht. Vielleicht wärest du entspannter, wenn du auch mal einen Joint probieren würdest.“
Anna knallte ihren Teelöffel auf die Untertasse.
„Sag Florian, dass ich morgen da sein werde, aber ganz egal, wie die Unterhaltung mit ihm verläuft, du wirst dieses Zeug nicht mehr anrühren, hörst du? Besitz und Konsum von Marihuana in größeren Mengen sind nun mal illegal. Ich habe mir die Gesetze nicht ausgedacht, aber wir sind auf jeden Fall verpflichtet, dir das Rauchen zu verbieten, Ben. Ansonsten machen wir uns selbst strafbar.“
„Jetzt kommt auch noch die Bullenplatte an die Reihe. Du bist wohl nie jung gewesen, was?“
Anna sprang auf und schlug ihrem Sohn mit der flachen Hand ins Gesicht.
Ben rieb sich seine feuerrote Wange.
„Ich wollte sowieso gerade nach oben gehen. Klasse Gespräch, Mama, vielen Dank auch.“
Mit diesen Worten spazierte er betont lässig in seiner bis zu den Kniekehlen herunterhängenden Jeans an ihr vorbei und sah sie dabei vorwurfsvoll an.
Vor und im Haus war es mittlerweile dunkel geworden. Anna saß in der Stille des nächtlichen Wohnzimmers und starrte aus dem Fenster. Bis zu diesem Tag hatte sie ihren Sohn noch nie geschlagen;
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