Liebeskind
Anna fühlte sich unendlich einsam. Warum konnte man nicht einfach nur in der Welt sein und leben. Warum musste man sich immer entscheiden? Zumindest als Mutter musste man immer eine Karte aus dem Stapel ziehen. Nie konnte man aussetzen, nie war ein Freilos oder eine Ich-muss-da-jetzt-nichtssagen-Lösung dabei. Mit pubertierenden Kindern am Rockzipfel gab es keine philosophischen Fragen mehr. Da ging es um Klarheit und Strukturen, auch wenn man sie nicht immer für gut befand. Nie hatte man eine ruhige Minute, nie einen Augenblick für sich allein. Immer musste man Grenzen aufzeigen, ständig musste man für alles ansprechbar, für alles verantwortlich sein. Und wo war eigentlich Tom bei all dem? Welche Aufgaben übernahm er als Vater in diesem mühsamen Spiel? Ja, wer fragte denn überhaupt einmal danach, wie es Anna ging, und wer war für sie da? Obwohl es schon spät in der Nacht war, schlich Anna auf Zehenspitzen in die Küche hinüber und setzte den Wasserkessel auf den Herd. Ein Schlaf- und Nerventee war jetzt genau das, was sie brauchte.
Elsa in Maschen, im Winter 1985.
Elsa hatte es noch nie leiden können, wenn man ihr übers Haar strich, so wie Tante Gertrud es immer tat, die einmal im Jahr zum Kaffeetrinken zu ihnen zu Besuch kam. Dann musste sich Elsa mit Robin und der kleinen Prinzessin im Wohnzimmer der Größe nach vor dem Esstisch, der nur für besondere Anlässe gedeckt wurde, aufstellen. Gertrud rauschte herein, den beleibten Körper jedes Mal in ein anderes wild gemustertes Kleid aus strapazierfähiger Kunstfaser gehüllt. An diesen Stoffen lag es wohl auch, dass beständig eine Mischung aus schlecht gelüftetem Kleiderschrank und Schweiß von ihr ausging. Ja, schwitzen, das tat die Tante unablässig. Elsa konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals ohne ein Stofftaschentuch im Kleiderärmel gesehen zu haben. Ein zerknittertes angegrautes Stofftaschentuch, das sie in einem fort hervorholte, um sich damit über die feuchte Stirn zu wischen. Gertrud stellte ihre Tasche mit den abgetragenen Haltegriffen im Pepitamuster ab, in der wie jedes Jahr nutzlose Geschenke, gespickt mit je einer Tafel Zartbitterschokolade, für die Kinder verborgen war. Anschließend drückte sie Miriam fest an sich und begrub sie fast unter ihrem ausladenden Busen. Die kleine Prinzessin ließ sich das gern gefallen, sie quietschte vor Vergnügen. Robin bekam einen saftigen Kuss mitten auf den Mund, den er mit einem scheuen Lächeln erwiderte. Danach rieb er sich den Mund jedes Mal verstohlen mit seinem Handrücken trocken. Elsa hatte eigentlich Glück, dass ihr nur ausgiebig über das Haar gestreichelt wurde, aber Elsa hasste Berührungen. Und Elsa hasste Zartbitterschokolade.
„Wie ihr wieder gewachsen seid. Kinder, nicht zu fassen. Vera, wir sollten uns öfter sehen, ich bekomme ja gar nichts mehr von euch mit.“
Worauf auch die Mutter Elsa über den Kopf streichelte und ein freundliches Gesicht dazu machte. Elsa bückte sich, tat, als hätte sie etwas auf dem Boden verloren und müsste es nun wieder aufheben. Anschließend machte sie einen Ausfallschritt und kam ein gutes Stück von Vera entfernt erneut zum Stehen.
Wie so oft in den letzten Tagen wählte Robin die Nummer seiner Schwester. Diesmal war ihr Handy endlich eingeschaltet. Wie viele Male hatte er diese Zahlenkombination nun schon getippt und doch immer nur ihre Ansage auf der Mailbox gehört. Zuerst hatte Robin brav seinen Spruch aufgesagt, dann aber, als Elsa sich nicht zurückmeldete, schließlich keine Nachrichten mehr hinterlassen.
„Elsa, wo bist du nur die ganze Zeit gewesen? Gib mir doch bitte deine Adresse, damit ich dich erreichen kann.“
„Mein Handy hatte den Geist aufgegeben, ich musste mir ein neues besorgen.“
„Die Ärzte haben zugestimmt. Sie sagen, es könnte sogar sehr gut für Mutter sein, wenn du sie besuchst. Wann wollen wir uns treffen?“
Elsa legte ihre Hand auf die Muschel. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Was sollte sie tun? Es war unmöglich, sie konnte Vera jetzt auf keinen Fall sehen.
„Zurzeit ist es schlecht, ich bin hier im Moment an einem Job dran, Robin, tut mir leid. Aber sobald ich den Kopf frei habe, melde ich mich, in Ordnung?“
„Wann wird das sein?“
„Kann ich noch nicht sagen, in ein paar Tagen, schätze ich. Sei nicht traurig, wir machen das, bestimmt. Du, ich muss jetzt Schluss machen, ich habe noch einiges für morgen vorzubereiten.“
Elsa legte den Hörer auf, holte sich ein Handtuch
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