Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
aussah, als sie wirklich war, eine Welt in einem Schaufenster, zum Verkauf ausgestellt, und ich hatte Lust, die eiligen Leute um mich herum anzuhalten und zu sagen, warum rennt ihr so, glaubt mir, es ist nicht nötig, an einen bestimmten Ort zu eilen, ich komme von dort, von dieser wirklichen, glänzenden, kostbaren Welt, und nichts ist dort so, wie es aussieht, alles ist verfault, glaubt mir, auf dem Friedhof gibt es nicht so viele Würmer wie in den schönsten Straßen dieser Welt, aber ich hielt den Mund und ging zur Toilette, um mir das Gesicht zu waschen, und als ich mich im Spiegel sah, wurde mein Weinen nur stärker, so traurig sah ich aus, sogar trauriger, als ich mich fühlte, mit roten Augen und geschwollenen Lidern und einem bitteren Mund, und ich dachte, wie komme ich da nur wieder heraus, wie komme ich da nur wieder heraus?
Gerade trat eine Frau aus einer der Kabinen und stellte sich neben mich, um sich die Hände zu waschen, und sie sah so richtig aus, keine Schönheit, aber in Ordnung, alles an ihr sah in Ordnung aus, sie hatte keine offene Wunde mitten im Gesicht, so wie ich, sie sah aus, wie ich ausgesehen hatte, bevor das alles anfing, und vor dem Spiegel murmelte ich, wer wird mich in den letzten Tagen ölen, wer wird mich in den letzten Tagen ölen, bis ich den Raum verließ und die Treppe hinaufging, zum Büro des Dekans, ich kam an unserem Zimmer vorbei, dem der Assistenten, und wandte den Kopf ab, konnte aber die heiteren Stimmen, die herausdrangen, nicht überhören, ich war wie von einer anderen Welt, ein Flüchtling, eine Errettete aus einem fernen Krieg, die erschrocken ihr früheres Ich trifft und sich davor versteckt, als wäre das der Feind.
Seine Tür stand offen, ich klopfte und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten, und ich sah, daß auf dem Tisch vor seinem leeren Stuhl ein aufgeschlagenes Buch lag, und setzte mich auf den Stuhl gegenüber, legte den Kopf auf die kühle Holzplatte und versuchte meine Tränen einzudämmen, doch sie tobten wie verrückt in meinen Augen, und je mehr ich mich bemühte, um so weniger gehorchten sie mir, sie machten meine Knie naß, wie früher, wenn ich vor dem kleinen Fenster Geschirr spülte und das Wasser von der Schürze auf meine Knie tropfte, während Joni herumlief und mir alles mögliche erzählte und ich kleine Spiele spielte, damit es für mich interessanter war, ich horchte zum Beispiel nur auf jedes dritte Wort, und wenn er dann sagte, was meinst du dazu, fing ich an zu stottern, ich hab’s nicht richtig gehört, sag’s noch mal, und dann achtete ich nur auf jedes zweite Wort, und vor lauter Anstrengung tat mir der Kopf weh, und beim dritten Mal war seine Stimme dann schon leise und ausdruckslos, und ich reagierte gereizt, sprich doch lauter, man hört dich kaum, warum flüsterst du, wenn du willst, daß ich dich verstehe, und das Wasser spritzte aus dem Becken und hinterließ nasse Flecken auf meiner Kleidung, bis auf die Socken, und auch jetzt juckte die Feuchtigkeit auf meiner Haut, als krabbele ein Insekt über mich, und dann spürte ich etwas Warmes auf meiner Schulter, und seine angenehme Stimme mit dem englischen Akzent sagte, ich wünsche Ihnen wirklich, daß es Ihnen bald besser geht.
Ich hob mein rotes verschwollenes Gesicht zu ihm, und er betrachtete mich sanft und sagte, ist es überraschend passiert? Und ich fragte erschrocken, was ist überraschend passiert, denn alles, was mir an diesem Morgen passiert war, hatte mich überrascht und erschreckt, aber ich konnte mir schlecht vorstellen, daß er das meinte, und er sagte, der Tod der Mutter, der Mutter, sagte er, als wäre sie auch seine Mutter, und ich dachte, man darf wirklich nicht lügen, wie komme ich aus dieser Situation wieder heraus, und ich murmelte, sie war nur meine Stiefmutter, und er nickte höflich und sagte, Ihre wirkliche Mutter ist also nicht mehr am Leben, und ich wollte schon, daß er aufhörte zu reden, und sagte mit gesenktem Kopf, nein, sie ist bei der Geburt gestorben, wie im Tanach, und er fragte, bei Ihrer Geburt, und ich sagte, nein, bei der Geburt meines Bruders, und er fragte, wie alt ist Ihr Bruder? Und ich flüsterte, er ist auch gestorben, ein paar Monate nach meiner Mutter, und er wich zurück und setzte sich auf seinen Stuhl, beeindruckt von meiner morbiden Familie, und auf einmal sah er aus wie ein rosafarbenes weiches Schweinchen, und ich fing vor lauter Verzweiflung an zu lachen, denn dieses ganze Treffen, das ich erwartet hatte wie eine
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