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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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sie, wovor hast du Angst, und ich murmele, das ist doch klar, oder? Ich habe Angst, die Herrschaft zu verlieren, ohne alles zurückzubleiben, es gibt doch genug, wovor man Angst haben kann, und sie nickt spöttisch, ja, so meint man im Westen, aber die großen tibetischen Lehrer sagen, wer alles losläßt, gewinnt die wirkliche Freiheit, und dann strahlt aus ihm die göttliche Gnade, wie die Sonne heute über deinem Kopf gestrahlt hat. Sie hat nicht wirklich gestrahlt, sage ich und denke an meine Enttäuschung am frühen Morgen, aber sie betrachtet mich ernst, du hast doch gesehen, wie die Nacht zum Tag wurde, und ich erinnere mich an das dunkle, kühle Hellblau, das mich empfing, als ich auf den Balkon trat, ich habe die Nacht lieber, die Sonne ist für meinen Geschmack zu aggressiv. Sie betrachtet mich ernst, fast flehend, schnell, drängt sie, du mußt mir zuhören, bevor die anderen aufwachen, und wirklich wird mir bewußt, daß alle schlafen, ihr Baby, meine Tochter und Udi, ein Zauber liegt über dem Haus, es ist eigentlich nicht mehr so früh, fast sieben Uhr morgens, aber noch immer scheint es, als schlafe die ganze Stadt, als seien nur wir beide wach, was hast du so dringend mit mir vor, du bist doch gekommen, um ihn zu behandeln, und sie sagt, und wenn ich jemand auf der Straße liegen sehe, der fast erstickt vor Schmerzen, würde ich dann nicht zu ihm gehen? Dieser Vergleich erschreckt mich, übertreibe nicht, sage ich, und sie, mit ihrer Ernsthaftigkeit, sagt, ich übertreibe nicht, Na’ama, ich habe deinen Mann gesehen und ich sehe dich, ich kann euch beiden helfen, Ehud ist eher in der Lage, sich selbst zu helfen, aber du versuchst ja nicht einmal, dir zu helfen. Warum sagst du das, hast du an seinem Puls gemerkt, daß ich sterben werde? Ich kichere verkrampft, und sie unterbricht mich ohne ein Lächeln, Na’ama, hör mir zu, aber ich habe es nicht so eilig, ich habe immer gedacht, bei Naturheilkunde handle es sich um irgendwelche uralten Arzneien aus dem Himalaja, um Kräuter und um Akupunkturnadeln, protestiere ich, und sie unterdrückt ihren Zorn, fast beleidigt sagt sie, ich habe hier eine Tasche voller Arzneien, dazu kommen wir auch noch, ich möchte erst mit dir sprechen, hör mir zu, bevor alle aufwachen und der Tag beginnt.
    Sie kommt mit ihren Lippen näher an meine Ohren, flüstert mir das Geheimnis des frühen Morgens zu, es gibt verschiedene Stufen des Bewußtseins, unser normales Bewußtsein ist wie eine Kerzenflamme auf der Schwelle vor einer offenen Tür, jedem Wind ausgesetzt, ein Opfer aller äußeren Einflüsse, es verursacht Wellen negativer Gefühle und wälzt sich in ihnen, aber im Gegensatz dazu bleibt die wahre Existenz der Erscheinung in uns verborgen, denke noch einmal an den Himmel und die Wolken, der Himmel ist unsere wahre Natur, die Wolken sind unsere normalen Bewußtseinsformen, sie gehören nicht zum Himmel und sie werden nie Spuren hinterlassen. Wie hypnotisiert höre ich ihr zu, um uns herum gibt es geschlossene Türen, es scheint, als wären alle gestorben, aber das stimmt mich noch nicht einmal traurig, die Vorstellung, wir wären allein auf der Welt zurückgeblieben, sie und ich, weckt ein süßes Gefühl in mir, denn plötzlich führen mich ihre Worte in den Zustand einer alten Ruhe, die so tief ist, daß der Tod dagegen klein zu sein scheint.
    Schau dir diese Wohnung an, sagt sie, und ich schaue mich um, betrachte die Sessel, die Bücherregale, die grauen Wände. Wie lange wohnt ihr schon hier, fragt sie, und ich sage, fast zehn Jahre, wir sind vor Nogas Geburt hier eingezogen, und sie sagt, aber das ist nicht deine wirkliche Wohnung, und ich protestiere, doch, natürlich ist das meine richtige Wohnung, ich habe keine andere, und sie sagt, aber diese Wohnung kann in fünf Minuten abbrennen, sie kann durch ein Erdbeben zerstört werden, deine wirkliche Wohnung existiert in deinem Bewußtsein, nur dort bist du sicher, nur dort bist du Herrin deines Glücks.
    Dann unterbricht das bekannte Knarren der Tür die Stille zwischen uns, Noga stürmt aus ihrem Zimmer, als brennte das Haus, sie schaut sich mit verquollenem Gesicht um, was ist los, fragt sie, ich stehe auf und umarme sie, nichts, gar nichts, ich unterhalte mich bloß mit Papas Ärztin. Mißtrauisch mustert sie Sohara, aber gleich erscheint ein unbefangenes, hoffnungsvolles Lächeln auf ihrem Gesicht, du bist seine Ärztin, fragt sie, ich bin froh, daß er eine Ärztin hat, und in ihrem üblichen zügellosen

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