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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ins Freie. Seine schwarzen Fellstreifen wirkten wie Gitterstäbe, und als er jetzt neben dem Karren herlief, den herrlichen, breiten Kopf hob und das Maul aufriß, war sein Rachen blutrot und dampfte.
    Ludmilla tat einen hellen Schrei, und Semjonow blickte sich um. Die Pferdchen waren nun dem Wahnsinn nahe. Sie rochen den Tiger, hörten sein Hecheln und heiseres Schnauben, und sie jagten über den Weg, wiehernd und mit blutunterlaufenen Augen, alle Angst der Kreatur in sich.
    »Legt euch in den Wagen!« brüllte Semjonow. »Ich habe meinen Bärenspieß neben mir. Wenn er anspringt, steche ich ihn ab!« Er griff zur Seite und holte den langen Spieß aus einer Lederschlinge, den Spieß, mit dem die alten jakutischen Jäger den Bär in einem ehrlichen Zweikampf jagen. Stolz sind sie dann auf das Fell, denn an jedem Haar von ihm hängt ein Tröpfchen Todesangst.
    Mit federnden Sprüngen jagte der Tiger neben dem Wagen her. Er war nun auf gleicher Höhe mit Ludmilla, und sie starrte in den blutroten Rachen und in die kleinen, kalten, mordlustigen Augen. Die Kirstaskaja hatte Semjonows Rat befolgt, sie lag auf dem Wagenboden und klammerte sich fest. Nicht so Ludmilla. Sie hatte ihre Nagan aus dem Gürtel gezogen, lud sie durch und hob sie nun zielend an die Augen.
    »Nicht schießen!« schrie Semjonow, der sich zufällig umdrehte. »Du triffst ihn nicht! Nicht schießen!«
    In seinen Schrei hinein fiel der Schuß. Aus dem fahrenden Wagen heraus war ein Zielen unmöglich, und so traf der Schuß nicht den Kopf, sondern streifte den Rücken des mächtigen Tieres. Es brüllte auf, machte einen wilden Satz in die Höhe, und dann war es, als gäbe es keine Erdenschwere mehr. Aus vollem Lauf sprang der Tiger das linke Pferdchen an, grub die Tatzen in die Kruppe des Gäulchens, zog sich empor und biß mit lautem, zischendem Fauchen in den Rücken.
    Das Pferd schrie gellend auf. Dann sank es vornüber in die Knie, riß das andere Gäulchen mit, die Leiber und das Zaumzeug und die Deichsel verwirrten sich, brachen, wurden ein um sich schlagendes Knäuel, und da hinein stürzte der Wagen, kippte zur Seite und begrub Ludmilla und die Kirstaskaja unter sich.
    Noch im Stürzen war Semjonow abgesprungen, hatte sich vom Kutschbock abgestoßen, flog weit durch die Luft und schlug auf dem Waldboden auf. Alles schmerzte ihn, es war ihm, als sei seine Lunge zerrissen, aber er richtete sich auf, schwankte auf den Weg zurück, sah seinen Bärenspieß im Staub liegen, riß ihn an sich und streckte ihn in instinktiver Abwehr vor.
    Vor ihm lag das Knäuel aus Pferdchen und Wagen. Die Räder drehten sich noch in der Luft, und unter dem Kasten, auf der Erde, lagen die Kirstaskaja und Ludmilla. Die Pferdchen lagen wie erstarrt daneben, sie rührten sich nicht, als habe das Entsetzen sie gelähmt.
    »Meine Nagan ist fort!« schrie Ludmilla. »Der Tiger ist hinter dir, Pawluscha!«
    Semjonow fuhr herum. Fünf Schritte von ihm entfernt stand der weißschwarz gestreifte Tiger, ein mächtiges, majestätisches Tier. Ganz ruhig stand er da. Seine Barthaare waren rot vom Blut des Pferdchens, und Blut troff auch aus seinem Rachen.
    »Laß die Nagan!« rief Semjonow und stützte sich keuchend auf seinen Bärenspieß. »Verkriech dich unter den Wagen, Ludmilla! Denk an Nadja …«
    Dann hob er den Bärenspieß, fällte ihn und richtete ihn gegen den Kopf des Tigers.
    »Komm«, sagte er heiser. »Komm … einer von uns wird nur übrigbleiben …«
    Der Tiger sah den Menschen mit dem Spieß an. Der kalte goldene Blick war ausdruckslos. Nur der Schweif peitschte hin und her und wirbelte Staub vom Boden. Dann zog er die Lefzen hoch und fletschte die herrlichen, dolchspitzen Zähne.
    »Komm«, sagte Semjonow noch einmal. »Ich laufe nicht davon …«
    Es war, als verstünden sie sich, der Mensch und das Tier. Der Tiger duckte sich. Sein Hinterteil glitt nach hinten, die Sehnen an den Vorderbeinen traten durch das Fell, die Muskeln des herrlichen Leibes spielten. Ganz leise, fast zärtlich brüllte er, sein Schweif peitschte den Boden mit wilden Schlägen, der Kopf streckte sich langsam vor, eine einzige, gespannte Sehne war der ganze Körper.
    Semjonow stemmte die Beine in den Boden und senkte den Spieß.
    Und der Tiger sprang, elegant und lautlos.

19
    Wie ein schwarzer Schatten, durch den streifig die Sonne schimmert, schwebte der schwere, gestreckte, herrlich kraftvolle Körper in der Luft. Der Kopf war vorgestreckt, die langen, spitzen Reißzähne leuchteten

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