Liebesnächte in der Taiga
ist der Peter anders als früher. Er sitzt im Bett, spielt keinen Skat mehr mit, starrt aus dem Fenster in den Wald und sagt, er habe Bauchschmerzen.«
»Gestern habe ich ihn nachts gesehen, wie er in der Tür stand. Ich mußte auf die Latrine. ›Ich hab's am Herzen‹, sagte er. ›Ich kriege keine Luft mehr.‹«
Noch bevor das Essen ausgeteilt wurde und Peter Kleefeld zu seinen Stiefeln zurückkam, hatte Josef Much eine Aussprache mit Hauptmann Rhoderich und Dr. Langgässer.
»Wir kennen den Peter«, sagte Much. »Es hat gar keinen Zweck, ihn zu fragen oder ihm ins Gewissen zu reden. Wißt ihr noch … vor neun Jahren? Da fehlten von einer Sonderzuteilung Schmalz drei Pfund. Es ist nie 'rausgekommen, wer sie geklaut hat … aber der Peter hatte eine Woche lang den Dünnschiß. Und Beweise? Er wird sagen, das Papier habe er in die Schuhe gelegt, weil sie undicht seien.« Josef Much sah Dr. Langgässer und Hauptmann Rhoderich fragend an. »Wir wissen doch alle, was sich der Peter da zusammenspinnt. Heimkehr in die Heimat! Als ob die Sowjets das täten! Dieser Karpuschin kann ja so was gar nicht versprechen. Aber wenn der Peter durchdreht …«
»Du weißt, daß Semjonow hier in der Gegend ist?« fragte Dr. Langgässer. Much nickte.
»Er ist einer der Initiatoren der Hilfsaktionen im Wald.«
»Ich weiß es.«
»Er ist Deutscher wie wir.« Dr. Langgässer stand auf, trat an das Fenster und sah hinüber zur Küchenbaracke. Peter Kleefeld saß in der Sonne, den Wassereimer zwischen den Knien, und schälte immer noch Kartoffeln. Der russische Küchenverwalter zankte sich mit dem Gruppenführer der Kartoffelschäler. Er hing halb aus dem Fenster der Küche und beschimpfte den deutschen Plenny. Ihm fehlten zwei bereits abgewogene Seiten Speck.
»Wirst sie selbst gefressen haben!« schrie der Deutsche zurück. »Woher haste denn den Bauch und den dicken Arsch, he? Immer wir armen Gefangenen …«
»Ihr wollt den Heiligen Geist kommen lassen?« fragte Dr. Langgässer und wandte sich ins Zimmer zurück.
»Ja. Peter Kleefeld ist längst fällig.«
»Wann?«
»Heute nacht.«
»Schlagt ihn nicht tot, Jungs.«
»Du wirst ihn schon noch zusammenflicken können, Doktor.«
»Und Major Kraswenkow? Er wird euch strafexerzieren lassen. Das ganze Lager.«
»Kleefeld wird keinen Ton sagen.« Josef Much lächelte böse. »Zweimal Heiliger Geist … das überlebt er nicht.«
»Aber wenn er ins Revier eingeliefert wird?«
»Er wird erzählen, daß er ein Mondsüchtiger sei und irgendwo bei seiner Wanderung heruntergefallen ist.« Oberfeldwebel Much stand auf und sah auf Hauptmann Rhoderich, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Du sagst gar nichts, Hauptmann.«
»Ich bin gegen Gewalt, das wißt ihr.« Rhoderich schüttelte den Kopf. »Kleefeld ist auch nur ein Mensch …«
»Soll er Semjonow verpfeifen? Eine kleine, spürbare Warnung ist immer gut …«
Dann kam die Nacht, eine dunkle Nacht mit tiefhängenden Wolken. In der Baracke Nr. 3 taten sie nur, als ob sie schliefen. Das Atmen und Schnarchen war ein guteinstudiertes Theater. Nur einer schlief wirklich, nachdem er in der Dunkelheit den zusammengefalteten Zettel aus dem Stiefel genommen und unter seine Matratze geschoben hatte. Wie jede Nacht.
Peter Kleefeld träumte von seinem Westfalen. Von den Kornfeldern und den Fichtenwäldern, vom Steinhägerkrug und Schwarzbrot mit Schinken. Und von seiner Frau Josefa. Heute war sie fünfundvierzig Jahre alt. Ob sie noch an den Peter Kleefeld dachte? Zwanzig Jahre Schweigen. O Josefa …
Kurz nach Mitternacht knackte Josef Much mit den Fingern. Die dunklen Gestalten kletterten von den Pritschen. Aus einer Ecke wurde ein großer Sack geholt. Er stank nach fauligem Kohl.
»Kein Wort!« flüsterte Much, als sie zum Bett Kleefelds schlichen. »Und denkt dran … er ist im Grunde genommen genauso ein armes Schwein wie wir alle …«
Es ging ganz schnell. Zwei Mann hoben den Kopf und den Oberkörper Kleefelds hoch, und ehe er aus dem Schlaf aufschreckte und erkannte, was geschah, war der Sack schon über ihm. Der Gestank des fauligen Kohls würgte in seiner Kehle, er wollte schreien, trat um sich, aber da schob man auch die Füße in den Sack, band ihn zu und versetzte ihm als ersten Gruß des ›Heiligen Geistes‹ einen kräftigen Schlag in seine Magengrube.
Kleefeld grunzte laut. Lähmende Angst ließ seinen Körper unbeweglich werden. Er biß sich auf die Lippen, krallte die Nägel in seine eigenen Oberschenkel und schrie.
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