Liebesnächte in der Taiga
gegen den blutroten Hintergrund des dampfenden Rachens. Kalt, gnadenlos, mörderisch starrten die Augen auf den kleinen, sich duckenden Menschen.
Semjonow riß den Bärenspieß an sich, sprang ebenfalls mit einem weiten Satz, als der Tiger durch die Luft flog, aber zur Seite, und mit wütendem, enttäuschtem Gebrüll federte das Tier einen Schritt neben Semjonow in den Staub der Waldstraße.
Genau hatte der Tiger die Entfernung berechnet. Mit allen vier Tatzen landete er auf der Stelle, wo Semjonow vor einer Sekunde noch gestanden hatte. Sein Schweif peitschte in den Staub, wirbelte ihn auf, und sein erneutes Gebrüll war eine Anklage gegen den Menschen, der schneller gewesen war als er.
Semjonow wartete nicht einen Wimpernschlag lang. Mit beiden Händen hob er den Bärenspieß und stieß zu. In diesen Stoß legte er sein ganzes Körpergewicht, seine Angst um Ludmilla und seine eigene Angst vor dem blutroten, dampfenden Rachen. Er traf den Tiger in die Brust, als dieser sich herumwarf und sich zu neuem Sprunge ducken wollte. Ein dummer Stich war's, Semjonow sah es ein, als die Eisenspitze des Spießes vom Brustbein abglitt, der Tiger sich auf die Hinterbeine setzte und mit beiden Vordertatzen gegen den Schaft schlug, so gewaltig, daß Semjonow fast gestürzt wäre, denn er hielt den Spieß fest umklammert. Der Spieß allein konnte jetzt sein Leben retten.
»O du Satan!« keuchte Semjonow. Schweiß brach aus seinen Poren; wie aus dem Wasser gezogen fühlte er sich plötzlich. Schweiß rann ihm über die Augen, in die Mundwinkel, über die Brust, die Schenkel herunter. Er spürte, wie von innen heraus ein Zittern durch seine Nerven glitt. Das ist die Todesangst, dachte er. So also ist es, wenn man glaubt, es geht zu Ende.
Noch nie hatte er dieses Gefühl gehabt, nicht einmal in Nowa Swesda, dem Dorf des Riesengeschlechtes, wo man sie auf die Rücken der Renhirsche band und in die vereiste Taiga jagte. Damals hatte er nur an Ludmilla gedacht, und er hatte in den bleigrauen Winterhimmel geschrien vor Schmerz über das Leid, das Ludmilla seinetwegen ertragen mußte.
Jetzt war es ganz anders. Er war stumm. Jeder Ton in seiner Kehle war abgewürgt. Jeder Gedanke starb im Blick der flirrenden gelben, mörderischen Augen des Tigers. Nur die nackte Angst war da … und sie war fürchterlicher als das lauteste Schreien.
Der Tiger sah sich kurz nach dem umgestürzten Wagen, den keuchenden Pferdchen und den beiden Frauen um, die unter dem Wagen auf dem Waldboden lagen und wie gebannt auf Semjonow blickten. Ludmilla hatte ihre Nagan entdeckt, die beim Niederstürzen aus ihrer Hand gefallen war. Fünf Meter seitlich, auf der Straße, lag sie. Aber sie war unerreichbar wie ein Stern. Neben dem Tiger schimmerte sie im Staub. Auch Semjonow sah sie, und er sah auch, daß aus der Brustwunde des Tieres Blut sickerte und es langsam zum Irrsinn trieb.
Wie ein mittelalterlicher Landsknecht spreizte er die Beine, stemmte sie in den Boden und rammte vor sich den Bärenspieß in die Straße. So stand er da, hochaufgerichtet, ein tödlicher Rammbock, und sah den Tiger an.
»Komm!« sagte er wieder, aber seine Stimme war so heiser, daß er sie selbst kaum hörte. »Komm, du Teufel …«
Und wieder sprang der Tiger. Aus dem Sitzen heraus, ohne Ducken oder Brüllen. Es war, als werfe er sich dem Menschen entgegen, blind in seinem Haß und wahnsinnig vom eigenen Blut und seiner brennenden Brustwunde.
Semjonow hielt den Spieß mit beiden Händen, senkte die Spitze etwas und drückte sein Gewicht dagegen. Ein schrecklicher Aufprall war's. In die untere Brust des Tigers bohrte sich der eiserne, breite Spieß hinein, splitterte die Rippen und traf das Herz.
Einen Augenblick lang stand der Tiger hoch aufgerichtet auf den Hintertatzen, ein mächtiges Tier, das Semjonow um zwei Köpfe überragte. Der Rachen keuchte, Schaumflocken aus Speichel spritzten Semjonow ins Gesicht, und die gelben Augen starrten in die Sonne, als begriffen sie nicht, daß das Herz zerschnitten und das Leben, das herrliche Leben in der Taiga, zu Ende war.
Semjonow sprang zurück. Mit dem Spieß in der Brust drehte sich der Tiger einmal um sich selbst.
Dann brachen die gelben Augen.
Semjonow ließ sich von Ludmilla das Gesicht abreiben, zog sein Hemd aus und frottierte sich die nasse Brust. Dann ging er zu dem Knäuel aus Pferden und Wagen. Trostlos sah es aus. Während das eine Pferdchen kniete und sich im Gewirr von Deichsel und Stricken verfangen hatte, lag das von
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