Liebesnächte in der Taiga
dem Tiger angefallene Gäulchen auf der Seite, und aus dem aufgerissenen Rücken floß noch immer das Blut. Tausende von Mücken saßen schon darauf und Schmeißfliegen mit grünschillernden Flügeln.
»Was willst du tun, Pawluscha?« rief Ludmilla und rannte ihm nach. »Du willst das Pferdchen töten?«
»Es muß sein, Ludmilluschka.«
Ludmilla sprang auf, rannte in den Wald, verbarg sich hinter einer mächtigen Zeder, drückte die Hände an die Ohren … und trotzdem hörte sie den bellenden Schuß aus der Nagan.
Wenig später richteten sie gemeinsam den Wagen auf, schirrten das eine Pferdchen an die Deichsel, schleiften den Tiger zum Wagen und hoben ihn hinein. Es war schon dunkel, als sie endlich weiterfahren konnten.
Eine traurige Fahrt war es. Immer wieder sah das eine Pferdchen zur Seite, wieherte und senkte den Kopf. Es schlich dahin, ohne auf die Zurufe Semjonows zu reagieren.
»Es ruft Burjuschka«, sagte Ludmilla. »Es wird uns bald vor Kummer sterben.«
In derselben Nacht noch holte man mit einem Lastwagen den Körper des Pferdes von der Waldstraße und begrub ihn hinter Semjonows Haus, am Rand der Taiga.
Es war das erstemal, daß man in Nowo Bulinskij ein Pferd begrub wie einen Menschen. Aber die Leute von Bulinskij verstanden Ludmilla, die darauf bestanden hatte. Erzählte man nicht, daß die Tatarenfürsten, wenn sie starben, ihr Lieblingspferd mit ins Grab bekamen? Ein Pferd ist in Sibirien wie ein Freund.
Und Ludmilla pflanzte über das Grab von Burjuschka eine weißrindige Birke.
Im Lager der Lebenslänglichen unterbrach das Erscheinen des ›Heiligen Geistes‹ den täglichen, zum Stumpfsinn führenden Trott.
Wer es nicht kennt, dem sei es erklärt: Der ›Heilige Geist‹ hat nichts mit Religion zu tun. Im Gegenteil. Etwas Unerfreuliches ist es, wenn er erscheint. Wo Männer gezwungen werden, in großer Zahl zusammen und miteinander zu leben, ist die äußere und innere Ordnung der Gemeinschaft das Wichtigste. Jeder, der sie durch Egoismus und Selbstsucht stört, ist wie ein Geschwür am Körper. Man schneidet es heraus, man brennt es weg.
In der Gemeinschaft der Männer heißt das Prügel. Prügel bis auf die Knochen. Nächtliche Prügel, ein aus völliger Dunkelheit herniederfallender Sturmwind von ungezählten Fäusten.
Das ist der ›Heilige Geist‹.
Major Wassilij Gregorowitsch Kraswenkow wußte von dem Erscheinen des Strafgerichtes ebensowenig wie der immer hellhörige junge Leutnant Stepan Maximowitsch. Dagegen wußten es Lagerarzt Dr. Langgässer und der Lagerkommandant Hauptmann Rhoderich. Aber sie schwiegen.
Er begann damit, daß der ehemalige Obergefreite Peter Kleefeld unvorsichtig war. Er hatte sich den Magen verdorben, war als Kartoffelschäler zum Küchendienst abkommandiert worden und saß nun mit zehn Kameraden in der Sonne vor der Küchenbaracke, ließ die geschälten Kartoffeln in die Wassereimer plumpsen und horchte auf die Musik des Mundharmonikaspielers. Da es sehr heiß war, hatte er nicht seine Stiefel angezogen, sondern trug selbstgeflochtene Bastschuhe an den Füßen, wie man es von den Kirgisen gelernt hatte.
Das war sein Fehler. Seine Stiefel wurden vom Stubendienst neben seinem Bett entdeckt, in die Mitte der Baracke geschleudert, da sie beim Scheuern des Dielenbodens im Weg standen, und als sie umkippten, rollte ein vielfach zusammengefaltetes Stückchen Papier heraus.
»Sieh mal einer an!« sagte der Lebenslängliche mit dem Schrubber, faltete das Papier auseinander und sah, daß es der Steckbrief Semjonows war. »Das ist ja 'n Ding! Will wohl fünftausend Rubel verdienen, der Kerl!«
Der Stubendienst brachte den Steckbrief zum Lagerältesten. Es war Josef Much, ein ehemaliger Oberfeldwebel und Bankbeamter aus Rinteln an der Weser. Der glättete das Papier, und als er das Gesicht sah, wußte auch er, daß dieser Semjonow vor wenigen Tagen im Lager gewesen war. Mit der Ärztin Kirstaskaja.
»Das war der mit dem Tabak in den Radnaben«, sagte einer vom Stubendienst. »Ich hab' dir das doch gleich erzählt.«
»Ihr solltet alle die Fresse halten!« sagte Josef Much und faltete den Steckbrief wieder zusammen. »Ihr redet zuviel. Der Peter hatte den Wisch also im Stiefel?«
»Ja. Und bestimmt nicht, weil der Stiefel zu weit war.«
»Es ist der einzige Steckbrief im Lager.« Der Mann, der den Tabak gefunden hatte, scharrte mit den Füßen. »Wir haben alle das Mistblatt auf die Latrine gebracht oder Zigaretten davon gedreht. Und seit ein paar Tagen
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