Liebesnächte in der Taiga
verfolgte jede seiner Bewegungen wie den Tanz einer grazilen Balletteuse.
Ein armer Mensch ist er, dachte Semjonow dabei. Wie kann man es ihm sagen? Ein Träumer ist er, trotz seiner Uniform, die er zu Hause im Schrank hängen hat, die sein Bursche ausbürstet und in der er glänzt bei den Empfängen, stolz seine Reihe Orden zeigend, die Tapferkeitsmedaille und den Leninorden. Eine Gruppe Offiziere … und mögen sie alle zusammen im Chor nach der Freiheit schreien … zehn Meter tief in der Taiga ersticken ihre Stimmen, der Wind treibt sie weg über die Ströme, die Sonne läßt sie verdunsten und die Kälte als Eiskristalle in den Schnee regnen.
Und Moskau ist 4.000 Kilometer weit entfernt!
»Ich kann gehen, Pawel Konstantinowitsch?« fragte Jelankin in die Stille hinein. Semjonow nickte stumm; am Fenster stand er, mit dem Rücken zu dem dürren, armen General und sah hinaus auf den schmutzigen, winzigen Hof, in dem eine gelbe Katze saß und an einem schimmeligen Mehlfladen nagte.
»Leben Sie wohl, Pawel Konstantinowitsch«, sagte Jelankin leise. Mühe hatte er, man hörte es, seine Stimme zu beherrschen, denn seine Worte erstickten an unterdrückten Tränen. »Der letzte Besuch eines alten Russen bei Ihnen war es. Wir sterben aus, Semjonow.«
»Ich weiß es, Fjodor Timofejewitsch. Gott sei mit Ihnen.«
»Gott hat immer Mütterchen Rußland geliebt.«
»Er wird es auch weiterhin lieben, Jelankin.«
»Ob wir es erleben, daß sich die Menschen unter dem Geläut der Glocken in die Arme fallen und sich nicht mehr Genossen, sondern wie früher Brüderchen nennen?«
»Ich weiß es nicht, General.« Semjonow drehte sich um. Jelankin stand in der Tür. Seinen Strohhut hatte er wieder auf dem dürren Schädel, und er sah schrecklich traurig und noch schrecklicher lächerlich aus, denn der Hut saß ihm schief auf dem Kopf, so schief wie seine lange Nase, nur nach der anderen Seite.
Semjonow preßte die Lippen zusammen. Mitleid ergriff ihn, und plötzlich sah er in Jelankin das große, weite herrliche Rußland und seine ewige Sehnsucht nach Freude und Glück.
»Nimm es mir nicht übel, Brüderchen«, sagte er stockend. »Aber ich habe Ludmilluschka und die kleine Nadeschda, und im Februar werden wir – so Gott es will – einen Alexeij Pawlowitsch dazu haben. Wir werden jeden Tag satt sein, wir werden Blumen in einem Garten pflanzen und unter einem Maulbeerbaum sitzen, wenn die Sonne untergeht, und uns fragen: Sind wir glücklich? Und wir werden antworten: Ja, wir sind glücklich. Und dann werden wir dasitzen unter dem Maulbeerbaum, in die rote untergehende Sonne blicken und an die Taiga denken, an die Lena mit ihren Sandbänken und Stromschnellen, an Nowo Bulinskij und Katharina Kirstaskaja, an Egon Schliemann und den Popen, Väterchen Alexeij, an den Vorsänger Frolowski, den man den ›Dreieckigen‹ nannte, und an Major Kraswenkow mit seinem Holzbein. Und wir werden uns ansehen und sagen: Pawluscha, unser Leben war schön! Und ich werde antworten: Ja, Ludmilluschka. Es konnte gar nicht anders sein …« Semjonow atmete tief auf. »So soll es werden, und so soll es immer sein, Fjodor Timofejewitsch. Wir haben unser Paradies gefunden.«
»Ein großer Mann bist du, Pawel Konstantinowitsch.« General Jelankin kam zurück in das kleine Zimmer, umarmte Semjonow und küßte ihn nach alter russischer Art dreimal auf jede Wange. »Leb wohl … man wird dich nicht mehr belästigen …«
Dann ging er, den Strohhut schief auf dem Kopf, mit durchgedrücktem Rücken, geraden Beinen und pendelnden Armen.
Wie ein Reiter, der sein Pferd verloren hatte …
Ende Februar war's, da spürte Ludmilla, daß das Kind kommen wollte. In der Nacht erwachte sie von einem ziehenden Schmerz im Rücken und in den Leisten; sie legte die Hände auf den hohen, prallen Leib und fühlte die Kraft des Kindes, das sich in ihr bewegte.
»Pawluscha«, sagte sie und küßte Semjonow auf die Augen. »Pawluscha, unser Sohn kommt …«
Semjonow wachte auf und sprang aus dem Bett. Alles hatte er vorbereitet, denn seit Tagen warteten sie auf diese Stunde. Im Nachbarhaus war ein Junge, der zur nächsten Polizeiwache laufen wollte, um von dort das Krankenhaus anrufen zu lassen, denn wer hatte schon Telefon in dieser Gegend? Ein Zimmer war bestellt, und Semjonow hatte gespart, um für Ludmilla ein Einzelzimmer nehmen zu können, so wie sie es sich immer erträumt hatte: ein Zimmer mit einem Balkon, groß und kühl und sauber und weiß, und eine
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