Liebesnächte in der Taiga
Gesicht, aber sie wurde nicht schöner. Wie eine Hure wurde sie, dick geschminkt, eitel, in schillernde Fetzen gekleidet, mit jedem im Bett vergnügt, der sie bezahlt. Die Lüge wurde zur Weltanschauung, die eigene Überschätzung zu einem Kult, der Tanz um das Goldene Kalb war noch nie so hektisch wie heute. Was haben die Völker vom Krieg gelernt? Ich frage Sie, Genosse! Nichts! Man gibt den Hungernden ein Zuckerbrot, und sie schreien wieder hurra. Und man sperrt die Nachdenkenden in Irrenhäuser, Gefängnisse, Straflager, Kohlengruben und Holzfällerbrigaden und redet vom Recht des Menschen auf Selbstbestimmung. Sagen Sie, Pawel Konstantinowitsch: Warum haben wir einen Krieg geführt?«
Semjonow starrte Jelankin verblüfft an. Ehrliches Erstaunen sprach aus seinen Augen.
»Woraus Kriege entstehen, das weiß man, Fjodor Timofejewitsch«, erwiderte er. »Ein Rätsel bleibt es nur, warum ihn Millionen mitmachen und nicht die davonjagen, die nach Waffen schreien. Wenn wir uns angewöhnen könnten, zu denken, daß wir Menschen sind, nur Menschen, weiter nichts, Menschen, von denen jeder den anderen braucht, als Bruder, nicht als Zielscheibe oder als Objekt eigener Gier … dann wäre Frieden! Aber wer so denkt, ist ein Idiot, Genosse Jelankin, denn mir scheint, der Mensch ist nur geschaffen worden, um zu vernichten.«
Jelankin nickte mehrmals. Semjonow ging zu einem alten Schrank, holte eine Flasche roten Wein und zwei niedrige Wassergläser. Er goß sie voll und schob eines dem General über den Tisch.
»Wir haben keine geschliffenen Gläser«, sagte er. »Wenn Ihnen der Wein nicht aus Wassergläsern schmeckt, Fjodor Timofejewitsch, dann gießen Sie ihn hinter sich auf den Boden.«
Jelankin schüttelte den Kopf, als wolle er sagen, daß es sündhaft sei, so etwas von ihm zu denken. Er trank mit zwei kräftigen Schlucken das Glas leer und stellte es vorsichtig ab, als habe er wirklich einen geschliffenen Pokal in der Hand.
»Sie sind ein mutiger Mensch, Pawel Konstantinowitsch«, sagte er und wischte sich mit einem Seidentuch über die bläulichen Lippen. »Ich kenne Ihren Weg bis nach Teheran sehr genau. Ich suche einen mutigen Mann.«
»Bitte sprechen Sie nicht weiter, General Jelankin!« entgegnete Semjonow rauh. »Ich verkaufe Teppiche und nicht mehr das, was Sie Mut nennen und in Wirklichkeit nur Verzweiflung und Liebe war. Vor allem Liebe.«
»Auch ich bin ein verzweifelter Mensch, Pawel Konstantinowitsch.«
»Noch ein Glas Wein, General?« fragte Semjonow ausweichend.
»Auch ich liebe! Nicht ein Weibchen, so blutvoll wie Ihre Ludmilluschka, sondern ein Mütterchen von unendlicher Schönheit. Ein Mütterchen, dem die Sterne gehören, die Sonne und der Mond, der Sturm, der Regen, der Schnee und das wilde Wasser …«
»Rußland«, erwiderte Semjonow leise.
»Ja, Pawel Konstantinowitsch!« General Jelankin sprang auf. Sein dünner Körper zitterte, über sein knochiges Gesicht flog ein Zucken, als unterdrücke er das Weinen, das in seinem Kehlkopf saß. »Es ist verraten worden, unser Mütterchen! Von Stalin, von Chruschtschow, von allen. Der große Vaterländische Krieg war keine Säuberung … er machte nur die Ratten fett! Wollen Sie Rußland helfen, Pawel Konstantinowitsch?«
»Nein!« sagte Semjonow fest. »Nein, General.«
Jelankin starrte Semjonow aus farblosen, wäßrigen Augen an. »Viel könnten Sie tun, Brüderchen. Eine Brücke schlagen könnten Sie zu den Menschen der westlichen Welt, die so denken wie wir. Eine Welt von Brüdern, Semjonow … Ist das nicht Ihr Ideal?«
»Eine Utopie ist's, Fjodor Timofejewitsch! So etwas gibt es nicht!«
»Fünfundfünfzig Millionen Tote in einem Krieg rufen uns dazu auf, Semjonow! Der nächste Krieg kostet zwei Milliarden Menschen! Er fegt uns von der Erde weg! Sie können mithelfen, diesem Wahnsinn die Nahrung zu entziehen! Sie kennen die Leute in den USA, auf die es ankommt. Eine Verbindung könnten Sie schaffen von ihnen zu uns. Eine Gruppe Offiziere sind wir, die an der Wahrheit nicht vorbeigehen. Semjonow …« General Jelankin beugte sich weit über den Tisch. Seine bläulichen Lippen zitterten. »Semjonow … helfen Sie mit am Frieden.«
Semjonow schwieg. Er trug die Flasche Rotwein wieder zurück zum Schrank, nahm die Gläser und spülte sie aus in einem Eimer mit frischem Wasser, stellte sie auf die Fensterbank und trocknete seine Hände an einem Handtuch ab, das an einem Nagel neben der Tür hing. Er tat das alles sehr langsam, und Jelankin
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