Liebling verzweifelt gesucht
Nichts. Dann suchte sie stundenlang den gesamten Bahnhofsbereich ab. Das Kätzchen konnte irgendwo sein. Vielleicht war es in seiner Panik weit weggelaufen. Schließlich rief mich Frau R. aufgelöst in der Vermisstenstelle an und fragte, was sie tun sollte.
Ich riet ihr, die Bahnhofspolizei zu benachrichtigen und auch die Leute zu informieren, die an den Ständen und in den Geschäften im Bahnhof arbeiteten. Außerdem sollte sie etwas Futter neben das Gleis werfen. Die meisten Tiere kommen an den Ort zurück, an dem sie verloren gehen. Und falls Sissi zurückkam und etwas zum Fressen vorfand, würde sie vielleicht in dem Bereich bleiben.
Frau R. tat alles, was wir besprochen hatten. Am nächsten Tag ging sie wieder zum Gleis und spähte vorsichtig zu der Futterstelle hinunter. Das Futter war verschwunden. Unauffällig ließ sie eine weitere Portion an der gleichen Stelle neben das Gleis fallen. Sie rief leise nach Sissi. Aber das Kätzchen war nach wie vor nirgendwo zu sehen.
So ging es nun zwei Wochen lang. Täglich kam Frau R. zum Gleis, kontrollierte, ob das Futter fort war, und legte eine neue Portion aus. Und immer suchte sie die gesamte Gleisumgebung nach Sissi ab. Jeden Tag rief sie mich an und berichtete mir von ihrer nach wie vorerfolglosen und nervenaufreibenden Suche. Ich machte ihr immer wieder Mut und drängte sie, nicht aufzugeben. Da das Futter stets verschwunden war, kam Sissi offenbar jeden Tag an diesen Ort. Früher oder später würde Frau R. sie sehen, davon war ich felsenfest überzeugt.
Schließlich war es soweit. Frau R. ging abends wieder zum Gleis. Um diese Uhrzeit war nicht viel los. Leise rief sie Sissis Namen, und als sich nichts tat, setzte sie sich auf die Bank neben dem Papierkorb und wartete. Stundenlang saß sie so da. Erneut stieg das Gefühl der Verzweiflung in ihr hoch. Sie hatte schon so viel und so lange gesucht. Dann sah sie im Halbdunkel plötzlich eine Silhouette auf den Gleisen. Es war Sissi. Frau R. sprang auf, beugte sich an der Bahnsteigkante nach vorne und rief nach dem Kätzchen. Sissi schaute nach oben, stutzte und wollte hinauf zu ihrem Frauchen, aber der Bahnsteig war zu hoch für sie. Frau R. vergewisserte sich rasch, dass kein Zug kam und niemand sie beobachtete, dann sprang sie zum Gleis hinunter, schnappte sich Sissi und kletterte schnell wieder nach oben. Zum Glück hatte niemand ihre Aktion bemerkt. Sie wusste sehr wohl, dass es verboten ist, die Gleise zu betreten, aber in diesem Moment war ihr Sissi eindeutig wichtiger als jede Vorschrift.
Das Kätzchen schmiegte sich an sie. »Ach, meine Süße, ich bin ja so froh, dich wiederzuhaben«, seufzte Frau R. glücklich. »Du bist so eine kluge Katze. Du hast dich von den gefährlichen Gleisen ferngehalten. Ich hatte solche Angst um dich – dass du überfahren werden könntest. Gott sei Dank ist dir nichts passiert. Und zumGlück bist du immer wieder zur Futterstelle zurückgekommen.« Sie gab Sissi einen dicken Kuss auf die Stirn und setzte sie vorsichtig in ihren weich gepolsterten Korb. Dann verschloss sie ihn besonders gewissenhaft und trug die Katze behutsam nach Hause. Sie versorgte Sissi und schmuste ausgiebig mit ihr. Dann rief sie mich an und erzählte von der abenteuerlichen Rettungsaktion. Sie bedankte sich bei mir dafür, dass ich sie immer wieder gedrängt hatte, weiterzusuchen.
Frau R. gehört zu den Menschen, die einen bewundernswerten Einsatz für ihre Tiere bringen – auch wenn es ihnen zwischendurch sicher nicht immer leicht fällt. Wenn ein Liebling dann nach langer Suche wiedergefunden wird, ist das die schönste Belohnung. Und auch für mich ist es immer wieder eine große Motivation und Bestätigung dafür, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben.
Hühnerjagd
Die Vermisstenstelle ist grundsätzlich für jedes Fundtier zuständig. Deshalb werden wir auch regelmäßig zu ungewöhnlichen Einsätzen gerufen. Eines Tages rief mich ein Mitarbeiter einer Burger-King-Filiale unweit des Tierheims an. Auf dem Parkplatz vor der Filiale liefen mehrere Hühner zwischen den Autos herum. Der Anrufer konnte mir nicht sagen, woher die Tiere stammten. Sie waren auf einmal aufgetaucht und sorgten nun für Chaos. Ich sagte dem Mann, ich würde sofort jemanden vorbeischicken. Normalerweise fahren unsere Inspektoren zu solchen Einsätzen, da aber gerade keiner von ihnen im Haus war, holte ich mir rasch eine Genehmigung von der Tierheimleitung, einen der Wildtierpfleger loszuschicken. Er machte sich gleich
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