Lied der Wale
ihrer inneren Stimmen. Genau. So jemand war sie nicht. Selbst wenn sie Michael nicht hätte oder er schon erwachsen wäre, außer Haus und ihrer gluckenhaften Fürsorge nicht mehr bedürftig, wäre da noch Geoffrey, und er hätte das wirklich nicht verdient. Nein, er konnte sich ihrer sicher sein, denn egal, wie unausstehlich sie auch zu ihm war, er würde sie lieben, auch mit schlaffer Haut und spröden Haaren. Betrügen? Niemals. Sie ihn? Auf keinen Fall.
Die Antwort kam zu schnell, Leah Cullin, Bullshit, gewaltiger. Tief aus ihrem Unbewussten stieg etwas auf, und Leahs Herz fing an zu galoppieren. Vorhin. Auf dem Vordeck. David. War das ein Kuss ? Quatsch, unmöglich, hätte er das getan, würden sich diese Fragen doch erübrigen! Bei einem Kuss wäre es nicht geblieben. Nicht dieses Mal. Sie hätte die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Und nicht mehr losgelassen. Sie könnte ja mit Michael nach Alaska ziehen, in ein Haus mit großem Garten, die ›Anchorage Daily News‹ würde jemanden von ihrem Kaliber mit Handkuss ... Oh Gott, schau dich nur an. Von Geoffrey-kann-ich-das-nicht-antun-niemals auf Wohnungsinserate-lesen-und-Bewerbung-hinschicken in vier Komma zwei Sekunden. Was ist nur aus dir geworden, du Turboschlampe, das Moralingeschwätz kannst du dir sparen, wir wissen genau, was los ist.
Nein. Die Wale waren es offenbar nicht. Nicht nur. Dass sie erwog, auf der »SeaSpirit« mitzumachen, hatte nur begrenzt damit zu tun. Auch wenn sie nach dem unvergesslichen Erlebnis immer noch voller Euphorie war.
Irgendwann spürte Leah, dass sie nicht mehr fror. Dann roch sie den wolligen Duft der Decke um ihre Schulter. Seit wann saß er neben ihr auf der Bank? Und warum starrte er sie so an, hatte sie etwa laut gesprochen?
»Den ganzen Nachmittag sitze ich hier und starre ins Nichts«, hörte sie sich zu David sagen. »Ist mein Verhalten sehr komisch?«
»Es ist angemessen.«
Während er sie ansah, wurde Leah bewusst, wie viele Facetten von Gefühlszuständen sein Gesicht gleichzeitig ausdrücken konnte. Gerade jetzt: ernst, ein bisschen schwermütig vielleicht, die Augen hintergründig, tief, als ob sie ein Geheimnis kannten, das sie nicht preiszugeben bereit waren.
»Ich glaube, ich verstehe jetzt, was Sie gemeint haben mit ›man muss es erfahren‹.«
»Wie so manches im Leben.«
Leah lehnte sich zurück. »Seltsam. Warum habe ich plötzlich den Eindruck, mein ganzes Leben falsch gelebt zu haben?«
»Wie kommen Sie darauf? Es gibt sicher Verwerflicheres, als Journalistin zu sein. Broker zum Beispiel.«
»Oder Anwalt«, bemühte sich Leah, die Scharade gegenüber David aufrechtzuerhalten.
»Tja, die gleiche Handlung erscheint in einem anderen Licht, wenn die Beweggründe dafür keine, sagen wir, aufrichtigen sind.«
Er hatte es auf den Punkt gebracht. Vielleicht war es tatsächlich nicht so wichtig, ob sie nun für ›National Geographic‹ oder den ›Chronicle‹ arbeitete, aber es war wichtig, weshalb sie sich an Bord gemogelt hatte.
Und der Grund war alles andere als aufrichtig. Ihr Hass von damals hatte seine Tentakel bis in die Gegenwart gestreckt. Und obwohl er jetzt fast vergessen war, so hatte er doch immer noch seine Auswirkungen. Zum Beispiel, weil Geoffrey den Hafen kannte, den die »SeaSpirit« demnächst anlaufen würde, und Leah sich nicht sicher sein konnte, dass er diese Information für sich behielt. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, sie sollte Davidalles offenbaren. Jetzt. Doch genau in diesem Augenblick zog eine Sternschnuppe ihre Bahn über den Himmel.
»Sie sollten sich etwas wünschen«, hörte sie ihn flüstern.
»Hab ich, und ich muss Ihnen etwas sagen ...«
»Nein, wenn Sie es aussprechen, ist der Zauber weg. Sehen Sie die Sterne dort? Der etwas hellere ...«
Sie folgte der Richtung, in die Davids Hand deutete, und konnte ihn unter all den funkelnden Diamanten gleich erkennen.
»Das Sirius-Sternensystem. Die Legende behauptet, von dort seien vor Millionen Jahren die Wale auf die Erde gekommen.«
Es fiel ihr schwer, sich auf den Stern der Wale zu konzentrieren, weil sie sich eigentlich vorgenommen hatte zu beichten.
»Klingt das sehr absurd für Sie?«
David, bitte, es ist mir wichtig, wollte sie tapfer mit ihrem Geständnis fortfahren, doch der Mut verließ sie, als er seinen Arm um ihre Schulter legte. Halt den Mund, nicht jetzt, sonst wird er ihn wegnehmen, und der ganze Zauber ist futsch, sei still.
»Ich denke manchmal darüber nach, ob wir nicht alle nur
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