Lied der Wale

Besucher sind, hier auf der Erde ...« – Leah lauschte seiner tiefen, heiseren, so betörenden Stimme – »... ob das Leben hier vielleicht nur eine kurze Durchreise ist. Oder wie es ein irischer Dichter nannte: ›Dieses lächerliche Gefühl vergänglicher Ewigkeit‹.«
    Das Prickeln auf ihrer Schulter begann sich über den ganzen Körper auszubreiten – lieber Gott, er soll sich nicht bewegen, lass seinen Arm da, wo er ist. Für immer.
    »Es gibt Religionen, die behaupten, dass wir wiedergeboren werden, was halten Sie von dem Gedanken?«
    Ihr Hals war vor Aufregung ganz trocken, sie musste jetzt etwas sagen, das Gespräch in Gang halten, sonst würde er verschwinden und sein Arm damit auch.
    »Glauben Sie an so etwas wie Karma?«, fragte sie statt einer Antwort. Leider wurde ihr leises Krächzen von einem deutlichen Knurren ihres Magens begleitet – nein , nicht doch, hiergeblieben.
    David sprang auf und musste lachen. »Glauben Sie an Abendessen?«
    Warum war dieser Kerl permanent so scharf darauf, sie abzufüttern?
    »Kommen Sie, Leah, unser Karma läuft uns nicht weg.«

A nderthalb Stunden später wälzte David sich rastlos in seinem Bett. Zwei Worte gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Bleib hier. Er hatte sich bereits vor einer Stunde in die Koje gehauen, und normalerweise wäre er längst eingeschlafen. Um seine Fähigkeit, wann und wo auch immer auf Kommando einzunicken, wurde er von allen an Bord beneidet, doch jetzt wollte es partout nicht klappen.
    Schuld war sie.
    Nachdem Leah ihm geholfen hatte, jeden Krümel aus Mareks pingelig blankgeputzter Kombüse schnellstens wieder zu entfernen, begaben sie sich mit den Sandwiches in die Kapitänsmesse. Etwas musste er falsch gemacht haben, sie wirkte irgendwie irritiert, der magische Augenblick draußen, unter dem Bann des Nachthimmels, schien plötzlich verflogen.
    Wahrscheinlich war es der Kuss. Ja, er erinnerte sich, dass er ihr am Nachmittag einen Kuss aufs Haar gehaucht hatte. Ohne nachzudenken. Ein kleiner Fehler, der ihm unterlaufen war. Im Nachhinein hatte er versucht, das Etikett »rein freundschaftliche Geste « draufzukleben. Doch es hielt nicht. Später, als er neben ihr auf der Bank saß, ertappte er sich bei dem Wunsch, sie wieder zu küssen, diesmal richtig. Leah musste es gespürt haben, Frauen hatten dafür einen sechsten Sinn, wahrscheinlich war es das, wassie ihm den ganzen Abend sagen wollte. Und wovon er sie mit allen Mittel abgehalten hatte. Vergiss es.
    Ja, er hatte seine Chance gehabt, und er hatte sie vergeudet. Dass er sich damals in New York, an besagtem Abend, auf den Zauber, der sich zwischen ihnen entfaltet hatte, nicht eingelassen hatte, dass er die Flucht ergriff, statt die Fügung des Schicksals dankbar anzunehmen, das es so clever einzurichten verstand, dass sich zwei Seelenverwandte über den Weg liefen, ja, das war ein verdammter Fehler gewesen, unentschuldbar. Sicher war es genau das, was sie ihm vermitteln wollte – du hast es vermasselt.
    Während sie aßen, hatte er über Belanglosigkeiten geplaudert, sich Mühe gegeben, das Gespräch am Laufen zu halten, und bei jeder Pause befürchtet, Leah würde die bittere Wahrheit aussprechen und sich dann für die Nacht verabschieden. Irgendwie war er plötzlich dabei gewesen, ihr das Funktionsprinzip des Kreiselkompasses zu erklären – wahrscheinlich entsprangen ihre Fragen bezüglich Schiffsnavigation eher der Verlegenheit. Doch ihre Knie berührten sich währenddessen, und er redete und redete, damit sie es nicht bemerkte und ihre nicht wegziehen würde. Nach fast sechs Jahren ununterbrochenen Aufenthaltes auf See war ihm das Prinzip so geläufig, dass er es im Schlaf hätte herunterleiern können. Was von Vorteil war, da sich sein Innerstes ungefähr wie ein Kreiselkompass gebärdete. Und das lag zweifellos an dieser Frau.
    Seit Ewigkeiten hatte er nicht mehr an Britt gedacht, seine Exfrau, die ihn nach seinem Absturz schneller fallengelassen hatte als eine heiße Kartoffel. Denn eine »Holland« konnte sich mit dem gebrandmarkten Loser unmöglich weiter in den Hamptons blicken lassen. Als er sie am meisten brauchte, schickte sie ihm per Kurier und ohne Begleitbrief die Scheidungspapiere.
    Er hatte sie aufrichtig geliebt, und seitdem Leah in seinen Tagträumen zunehmend an Bedeutung gewann, wurde ihm wiederbewusst, welch tiefe Wunden Britt bei ihm hinterlassen hatte. Seit damals waren Frauen für ihn tabu. Attraktive besonders. Steve, der sich eine Weile darüber