Lied der Wale
verstimmte Mitarbeiterin.
Er griff sich den Stapel der Anzeigenaufträge. Zuoberst lag die Zusammenfassung der letzten zwölf Quartale. Man musste kein Finanzgenie sein, um den Verlauf der Kurve richtig zu interpretieren – es war eine Talfahrt, die jeden Abfahrtsskiläufer in Entzücken versetzt hätte. Milde gesagt: Es sah beschissen aus. Geoffrey griff abermals zum Rechner, und Sekunden später erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Er würde die Kurve nach oben biegen, sodass die Skiläufer zumindest einen Schlepplift benötigten.
Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Er kramte nach der Nummer von FishGoods und verlangte Mr Kazuki. Kurz ertönte eine Melodie, die ihn irgendwie an ›M. A. S. H‹ erinnerte, dann hatte er seinen Retter an der Strippe.
»Mr Kazuki, Geoffrey Wilbert vom ›Chronicle‹, ich habe eine Information für Sie.«
»Betrifft es McGregor?« Der kam direkt zur Sache.
»Allerdings. Wir beide sollten ...«
»Sie haben den Hafen?«, unterbrach ihn Kazuki.
»Ja.« Jetzt fehlte nur noch, dass er den Namen forderte und auflegte.
Doch mit einem Mal schien Kazuki wie verwandelt: »Mr Wilbert, ich freue mich sehr, mit Ihnen Geschäfte zu machen. Was halten Sie davon, wenn wir in den nächsten Tagen zusammen speisen? Ich schicke Ihnen den Jet.«
Geoffrey schluckte. Er war davon ausgegangen, die Sache am Telefon abhaken zu können.
»Sehr schön«, sagte Kazuki und legte auf, noch bevor er ihm antworten konnte. Natürlich würde er brav der Einladung folgen, aber es fuchste Geoffrey, so überrumpelt zu werden. Bevor es ihm jedoch gelang, sich so richtig in Rage zu steigern, tauchte vor seinem geistigen Auge Leahs Gesicht auf. Es war ihr Verdienst, dass er mit FishGoods so schnell zu Potte kommen würde. Sicher würde sie jubilieren, dafür verantwortlich zu sein, dass die schwierige finanzielle Situation im Hause sich schlagartig zu entspannen versprach. Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen, die Reise hatte sich gelohnt, McGregor führte ein zweites, geheimes Konto, gefüllt mit etlichen Millionen. Was wollten sie mehr?
Er würde Leah am Tag ihrer Rückkehr mit Nicks Entdeckung überraschen – die gute Nachricht quasi mit einem vorbereitenden Pitch auf ’s Grün servieren, um gleich hinterher den Heiratsantrag ganz sanft ins Loch zu putten. Er würde um ihre Hand bitten, so wie sie es sich vorgestellt hatte. Romantisch. Auf Knien, wenn’s sein musste. Mit Kerzen und Harfenmusik. Und er würde den verwandelten Mickey sozusagen als Sahnehäubchen servieren. Da er ihren Sohn endlich auf seiner Seite hatte, standder Hochzeit nichts mehr im Wege. Morgen sollte er unverzüglich damit beginnen, die Verlobungsparty vorzubereiten. Besser: vorbereiten zu lassen. Eine Agentur beauftragen, die so was professionell anpackte, mit allem Pipapo.
Ja, er freute sich auf Leahs Ankunft. Auf ihr Staunen darüber, dass ihr über alles geliebter Sprössling gerade dabei war, Melville zu lesen, und darüber, dass satte Anzeigenaufträge winkten, die in ihrer nächsten Jahresbilanz nach langer Zeit wieder für ein Plus sorgten.
S ie hatte an diesem Tag keine Zeile geschrieben. Nach einer Verschnaufpause waren Masao und David nochmals hinausgefahren, um weitere Wale zu markieren. David hatte sie sogar gefragt, ob sie nicht mitfahren wolle, doch sie musste allein sein. Und eine Lösung finden. Niemand sonst hatte sie angesprochen, sie saß auf ihrer Bank, als ob sie unter einer Tarnkappe versteckt wäre. Genauso fühlte sie sich auch. Seitdem sie aus dem Wasser zurückgekehrt war, hatte sie nur einen einzigen Gedanken: So wie bisher, so willst du nicht mehr weiterleben. Und diese Gewissheit erfüllte sie zugleich mit einer tiefen Traurigkeit.
Es war eine Sache, mit den Umständen, in denen man steckte, unzufrieden zu sein, und eine andere, sich aus ihnen zu lösen. Leah wusste nicht, was sie tun konnte, um ihrem Leben einen tieferen Sinn zu geben. Hätte sie kein Kind gehabt, gut, da wäre einiges möglich gewesen, zum Beispiel David zu bitten, sich hier auf dem Schiff nützlich machen zu dürfen ... Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, als sie sich schon dafür schämte: Mickey als Argument zu benutzen war verwerflich. Aber was ist mit deiner Mutter, den Freunden, deinem Job, der noch lange nicht abbezahlten Wohnung? Geht es dir wirklich um die Wale,oder liegt es an David, dass du überhaupt so etwas in Erwägung ziehst? Und was ist mit Geoffrey?, maulte die empörteste aus dem babylonischen Gewirr
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