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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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gewundert hatte, warum David nie das Schiff verließ, attestierte ihm ohnehin eine emotionale Speckschicht, die nur noch vom Blubber eines Blauwals übertroffen wurde. In seinem derzeitigen Job, wenn man sein Lebenswerk so bezeichnen wollte, waren die Chancen, sich mit Frauen auseinandersetzen zu müssen, ohnehin geringer als die für das Auftauchen eines herrenlosen Treibnetzes, und Angriffe auf seinen »Blubber« waren bisher kaum vorgekommen. Bis Leah hereinspazierte. Runterplumpste, um genauer zu sein. Aus einem Helikopter, mit dem sie auch wieder verschwinden würde, sehr bald schon. Während er ihr erklärte, weshalb ein Kreiselkompass den wirklichen geografischen Norden und nicht den davon abweichenden magnetischen anzeigte, nahm er ihren zarten Duft wahr.
    Vergiss es .
    So lautete der lapidare Kommentar seines Verstandes. Außerdem bist du zu alt. Und zu verschroben. Und zu knorrig. Doch dann hatte er plötzlich ihr Bein neben seinem gespürt. Das war der Augenblick, in dem es ihm zum ersten Mal schwerfiel, das Prinzip des Kreiselkompasses zu verdeutlichen. Instinktiv wollte er das Papier zur Seite schieben, den Griffel fallen lassen, sie packen und küssen. Zum Glück hatte er sich so weit unter Kontrolle. Eine derartige Torheit hätte sie mit Sicherheit auf der Stelle in die Flucht getrieben. Stattdessen quasselte er weiter, als ob sein Leben davon abhinge, und hoffte, dass er es noch nicht verlernt hatte, in den Augen einer Frau zu lesen. Er suchte diesen besonderen, magischen Blick, der stille Übereinkunft verhieß – Startsignal für den Tauchgang in Gefilde, in denen er sich früher einmal wie selbstverständlich bewegt hatte. Wie oft hatte er den Blick provoziert, sich darin gesonnt, um schließlich die meisten seiner Nächte nicht alleine zu verbringen. Wenn er sich nichtgänzlich täuschte, dann hatte er diesen Blick in Leahs Augen bereits erspäht. Für einen flüchtigen Moment, oben auf dem Deck, war er da gewesen.
    Doch eines war neu: Er verspürte das Verlangen, nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele zu berühren.
    Niemals hätte er gedacht, dass eine Großstadtfrau wie sie in ein Schlauchboot steigen würde, um Tiere aus Treibnetzen zu befreien. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass sie eine Nacht lang neben einem todgeweihten Wal ausharren würde, voller Hoffnung auf sein Überleben, voller Verzweiflung über seinen Tod. Und der heutige Tag hatte ihm gezeigt, dass sie in der Gegenwart der Wale das Gleiche empfand wie er.
    »Sie sind müde, tut mir leid, verzeihen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.«
    Mit diesem Satz beendete Leah plötzlich seinen Monolog, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zur Tür zu begleiten.
    Sie griff nach seiner Hand, drückte sie kurz und fest. »Schlafen Sie gut. Und danke für den schönen Abend.«
    »Ja, schlafen Sie auch gut.«
    Für den Bruchteil einer Sekunde schaute sie ihn prüfend an, wahrscheinlich stand ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Dann verließ sie die Kajüte. Und nachdem sie die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte, flüsterte er diese zwei verdammten Worte:
    Bleib hier.
    Erneut sah David auf die Uhr. Wieder eine Stunde später, und er war immer noch hellwach. Lass die Finger von ihr. Was soll das bringen, die Frau wird bald in ihr bisheriges Leben zurückkehren. Und deines wird ohne sie leerer sein.
    Die Stimme seiner Vernunft übertönte schließlich wie ein Presslufthammer jeden anderen Gedanken. Sie war laut genug, um ihn zur Räson zu bringen, und stellte ihm zwei neue Wortezur Verfügung. Ein Mantra für den gesegneten Schlaf. Für ein ruhigeres Dasein.
    Finger weg.
    E s war die Lakonie, die Leah verblüffte, nicht der Inhalt. Steve hatte sie beim Frühstück gebeten, seinen Vortrag für die bevorstehende Artenschutzkonferenz zu überfliegen, und Leah wunderte sich, wie es der Mann bloß schaffte, so wenig Pathos aufzubringen. Die fabelhafte Arbeit, die die Mannschaft der SeaSpirit verrichtete, auf einfache Zahlenkolumnen zu reduzieren – das würde potenzielle Geldgeber wohl kaum vom Hocker reißen. Wie viele Tiere und von welcher Spezies in den Treibnetzen verendeten, ja, das war sicher ein wichtiger Aspekt, dazu gehörte aber auch die emotionale Veranschaulichung des tragischen Ausmaßes dieses Elends. Etwas, das unter die Haut ging.
    »Soll ich dir ein paar Tipps geben?«
    »Nur zu.«
    »Bring sie zum Weinen, Steve. Menschen sind, was Zahlen angeht, immun geworden. Dass

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