Lied der Wale
Tausende irgendwo an Hunger sterben, bleibt leider nur Statistik, Sekunden später ist es schon aus den Köpfen verschwunden. Werden wir aber mit einem ausgesetzten Welpen konfrontiert, hungernd an einen Pfosten gebunden, das bricht uns das Herz, da gehen wir auf die Barrikaden. So ist unsere Gesellschaft nun mal gestrickt, leider, wie gesagt.«
Steve schien nicht überzeugt. »Zu Hunden haben die Menschen eine besondere Beziehung.«
»Eben. Schaffe eine. Zu dem kleinen Wal zum Beispiel, der nicht mehr zu retten war. Lass die Leute durch deine Augen sehen, was hier wirklich passiert. Was ihm und vielen seiner Art angetan wurde. Nenne die Schuldigen beim Namen, ihr kennt sie ja; deren ganze Nation an den Pranger zu stellen ist nutzlosePropaganda. Einen Geschäftsmann zu entblößen, tja, da wird es schon konkreter, gegen den kann man was unternehmen, seine Produkte meiden. Begreifst du, was ich meine? Da kommen doch Leute vom Fernsehen, gib ihnen Gefühle, gib ihnen Zündstoff, und die werden es im ganzen Land ausstrahlen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, musste Steve zugeben.
»Willkommen im Haifischbecken der Medien. Die stärkste Story überlebt. Und die stärkste Story spricht das Herz an, nicht den Intellekt.«
»He, komm doch mit, der Heli holt mich übermorgen ab, brauchst nicht extra bis Dutch Harbour zu warten.«
Steve war längst bei der Überarbeitung seines bevorstehenden Vortrags, und Leah wunderte sich immer noch über die scheinheiligen Argumente, mit denen sie sein Angebot ablehnte. Denn übermorgen wäre zu früh, das würde die kostbare Zeit, die sie noch mit David hatte, weiter verkürzen. Unmöglich.
Sie hatte am Vorabend Stunden benötigt, um einzuschlafen. Zunächst versuchte sie sich einzureden, es hätte an der Begegnung mit dem Wal gelegen, doch sie musste sich eingestehen, dass es eine Begegnung ganz anderer Art war, die ihr den Schlaf raubte. Ihr wurde beängstigend klar, was sie bislang hatte verdrängen können: dass Dutch Harbour die Endstation ihrer Reise war. Sie würde dort für immer aus Davids Leben verschwinden und nach Hause fliegen. Wieder an ihrem Schreibtisch sitzen, Artikel schreiben, recherchieren, noch mehr Artikel schreiben – und ihre Zeit auf dem Schiff würde zur Erinnerung verblassen. Sie würde Geoffrey dazu bringen, eine Serie über Wale und die »SeaSpirit« zu publizieren, und dann würde der Ordner McGregor aus ihrem Archiv verschwinden. Wie die Wale. Verdrängt aus ihrem Kopf und den Köpfen ihrer Leser. Sie hätte Steve sagen sollen, dass zwar die stärkste Story überlebt, aber nur, bis sie von der nächsten verdrängt wird. Außer ...
I ch habe eine Idee.«
David sah nicht einmal auf, während er, über den Tisch gebeugt, die Sender zur Markierung der Wale inspizierte.
»Hallo, ich habe eine Idee!«
Er war wie verwandelt. Gestern Abend noch hatte sich Leah eingebildet, eine Nähe und Zuneigung zwischen ihnen zu spüren, die sie niemals für möglich gehalten hätte. Und heute trug er wieder das große Nicht-betreten-vermintes-Gelände-Schild um den Hals, das spürte sie schon, bevor er antwortete.
»Und ich hab leider keine Zeit.« David ließ die Armbrust auf den Tisch gleiten, vermied es aber, sie dabei anzuschauen.
Sein abweisender Ton konnte sie nicht entmutigen. »Ich weiß, wie die SeaSpirit-Bewegung größer werden kann.«
»Größer? Sie sollten inzwischen wissen, dass ich der Größe der Bewegung keine Bedeutung beimesse.«
»Aber Sie haben ein Interesse daran, dass die Wale nicht mehr gejagt werden. Und ich weiß jetzt, wie wir diesem Ziel ein Stück näher kommen können.«
David schob ein paar Markierungspfeile auf dem Tisch hin und her.
»Ich meine, ihr braucht Leute, die euch unterstützen.«
»Wir bekommen Spenden.«
Logo. Deshalb habt ihr auch hundert Miese auf dem Konto . Es gelang ihr gerade noch rechtzeitig, ihre Zunge im Zaum zu halten. »Nein, ich rede von Spendern, die richtig viel Geld lockermachen. Die Einfluss haben, die ihre Spenden publik machen und andere Menschen zum Nachdenken anregen.«
»Multiplikatoren.«
»Genau. Multiplikatoren.«
Zumindest hatte sie seine Aufmerksamkeit geweckt. In der letzten Nacht war ihr bewusst geworden, dass es ihr kaum mehr gelingen würde, einfach so zur täglichen Routine zurückzukehren.Als ob nichts geschehen wäre. Das Mindeste war, den Kontakt zu halten, wenn auch aus der Ferne, sie wollte wenigstens verfolgen, wo sich die »SeaSpirit« – nein, sei ehrlich: wo er
Weitere Kostenlose Bücher