Lied der Wale
»...750 Kilometer, bald kannst du nach Hause.«
Etwas Schlimmeres hätte er nicht sagen können.
»In Ordnung«, entschied David, »dann schippern wir endlich da hin. Wenn wir den Diesel etwas schonen, brauchen wir drei Tage.«
»Kannst du mir noch mal unser Walbaby zeigen?«, bat Leah.
David nickte Govind zu, der mit ein paar Mausklicks drei blinkende Punkte auf den Bildschirm zauberte. »Das sind wir.« Er zeigte es ihr auf dem Monitor. »Der Punkt mit der Nummer B18 ist die Walmutter, B19 das Junge.«
Beide entfernten sich von der »SeaSpirit« auf einer Route, die vermutlich seit uralten Zeiten in ihren Genen verankert war. Leah kam es beinahe so vor, als wäre sie zum zweiten Mal Mutter geworden. Das Walbaby war nun das Kind ihrer Liebe, und es war schön, etwas zu haben, was David und sie tiefer verband. Jedes Mal, wenn sie daran denken würde, würde sie auch an David denken, und jedes Mal, wenn Punkt B19 auf Davids Monitor blinkte, würde er mit seinen Gedanken auch bei ihr sein.
»Es hat noch keinen Namen! Es sollte einen haben«, flüsterte sie ihm zu.
»Dann gib ihm einen.«
Leah überlegte. »Noah finde ich schön.«
David winkte zum Monitor: »Bon voyage, Noah, viel Glück auf unserem Planeten.« Dabei drückte er ihre Hand für einen Augenblick so fest, dass es schmerzte.
»Auch wenn ich nicht mehr an Bord bin – du lässt mich immer wissen, wo Noah ist und wie es ihm geht?«
»Versprochen.«
David besiegelte den Pakt mit einem Kuss. Vergessen war Govind, vergessen sogar der Gedanke, dass sie bald nicht mehr an Bord sein würde.
L eah wartete ungeduldig, bis David die Nachtwache beendet hatte. Endlich konnten sie wieder zusammen sein, und sie bekamen nicht genug voneinander. Nachdem sie sich geliebt hatten, breitete sie ihr ganzes Leben vor ihm aus, erzählte von ihrem Sohn, ihrer Mutter, von ihrem Job, ihren Freunden in Washington und schließlich auch von Geoffrey. Nur von ihrer ursprünglichen Absicht erzählte Leah nicht. Und auch nicht von ihrem Vater. Eigentlich hätte sie David jetzt reinen Wein einschenken müssen.
»Bloß nicht«, hatte Susan auf ihre E-Mail geantwortet, nachdem sie ihr von ihrem Dilemma berichtet hatte. »Manchmal ist eine Lüge der Wahrheit viel näher als alle edlen Versuche der Aufrichtigkeit. Warum willst du ihm wehtun? Warum ihm etwas erzählen, was keine Bedeutung mehr hat?«
Ihre Lage war kompliziert genug, und auch wenn sie nicht wusste, ob Susan nun recht hatte oder nicht, so war Leah doch klar, dass es am ungefährlichsten war zu schweigen. Denn Leah war zwar als Feindin an Bord gekommen, doch all das war längst verblasst wie Herbstlaub im Frühling, hatte sich in Luft aufgelöst. Jetzt liebte sie ihn, und er liebte sie, und die Zeit war knapp und schnell vergeudet mit jedem unnützen Wort. Die Wahrheit konnte falsch sein wie eine Schlange. Sie konnte eine unberechenbare Waffe sein, deshalb war Vorsicht geboten, wenn man sie zum Einsatz brachte. Warum sollte sie ihre Liebe dieser Gefahr aussetzen? War das notwendig? Mit Sicherheit nicht. Warum sollte sie ihm von etwas erzählen, das längst keine Gültigkeit mehr hatte, warum ihn an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln lassen?
»Frauen sind eigenartig«, hatte ihr Susan geschrieben. »Aus Angst, dass ihr Macker ihnen etwas verheimlicht, bestehen sie auf absoluter Ehrlichkeit – ›Lüg mich nie an, wenn du mich anlügst, tut es mir noch mehr weh‹ –, und um ihm auf die Sprünge zu helfen, offenbaren sie gleich das Erstbeste von sich selbst.O. k., denkst du dir, das ist eine faire Abmachung. Von wegen. Wär besser gewesen, die Klappe zu halten, denn kaum gibst du was preis, was nicht in das Bild passt, das er sich von dir gemacht hat, ist er zutiefst getroffen. Und leidet. Und weiß nicht, ob er dir jemals wieder vertrauen kann. Oder er verlässt dich auf der Stelle. Vergiss es einfach, denk nicht mal dran. So wie ich dich kenne, liebst du deinen David dafür umso mehr.«
Wahrscheinlich hatte Susan recht. Leah entschied sich, ausnahmsweise nicht päpstlicher als der Papst zu sein.
Die Zeit mit David war erfüllt von Zärtlichkeit, von Lachen und auch von Weinen. Sie schmiedeten Pläne. Sie nahmen sich vor, es nicht zu tun, und taten es doch. Das mit dem Haus in Alaska konnte Leah zu den Akten legen: Schon in zwei Monaten würde die »SeaSpirit« die Reise nach Neuseeland antreten. Sie gaben sich Mühe, sich damit so sachlich wie möglich auseinanderzusetzen. Sie wussten beide, sie würden sich, ganz
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