Lied der Wale
wollte sie doch mit Mickey abholen.
Sie hatte eigentlich vorgehabt, es ihm persönlich zu sagen. Nicht am Telefon. Nicht jetzt. Zu dumm.
Als die Maschine abhob, fingen die schwarzen Gedanken erneut an, von ihr Besitz zu ergreifen. David wird sterben, hallte es in ihrem Kopf.
E r hielt den Hörer noch in der Hand. Saß auf Leahs Couch, in Leahs Wohnung, trug ihren Bademantel, der nach ihr duftete, und wollte es nicht wahrhaben. Vernahm den hysterischen Besetztton und weigerte sich zu akzeptieren, was sie ihm vor einer halben Stunde offenbart hatte. Sie hatte geweint.
Wegen diesem Mann?
Wegen uns?
Geoffrey legte den Hörer zurück auf die Gabel und wünschte sich nur noch eines: dass dieser Scheißkerl starb.
Dann stand er auf und ging in Michaels Zimmer, um ihm zu erklären, warum sie beide seine Mutter doch nicht wie geplant gemeinsam heute Abend bekochen würden.
D ie Frage, ob David noch am Leben war, wurde von der zierlichen Krankenschwester am Empfang des Krankenhauses zunächst mit einer Gegenfrage beantwortet: »Wer will das wissen?«
Bereits im Flugzeug war Leah klar geworden, dass sie an dieser Stelle schwindeln musste.
»Seine Frau will das wissen.«
»Verzeihen Sie, Mrs McGregor, ständig tauchen hier diese Aasgeier von Journalisten auf, wir sind nur ein bisschen vorsichtig. Können Sie sich bitte ausweisen? Führerschein, eine Kreditkarte würde schon ...« Sofort zeigte sich Misstrauen in den Augen der Schwester, denn Leah reichte ihr aus Versehen ausgerechnet den Presseausweis.
»Cullin?«
»Cullin, richtig, ich habe meinen Namen behalten, und ich will verdammt noch mal endlich wissen, ob mein Mann lebt!«
Die Skepsis wich der Kälte. »Tut mir leid, wir dürfen nur Familienangehörigen Auskunft erteilen... Wenn Sie jetzt bitte gehen würden.«
»Schwester!«, drohte Leah. »Ich bin mit David McGregor verheiratet, trage den gleichen Namen wie mein Sohn aus erster Ehe, und, ja, ich bin auch Journalistin, einer von den Aasgeiern, eine, die, wenn Sie mir nicht sofort sagen, wie es meinem Mann geht, morgen einen Artikel über Ihr Krankenhaus verfasst, der Sie Ihre Stelle kosten wird ... Haben Sie mich verstanden?«
»Mrs McGregor?«
Leah drehte sich um. Hinter ihr stand ein älterer Arzt, ein Afroamerikaner mit schneeweißen Haaren und den gütigsten Augen, die sie jemals gesehen hatte.
»Sie heißt Cullin«, fügte die Schwester schnell hinzu, sichtlich bemüht, ab sofort alles richtig zu machen.
»Wir hatten miteinander telefoniert. Mein Name ist Fletcher. Ich hab Ihren Mann in der Notaufnahme ...«
»Bitte sagen Sie’s mir, Dr. Fletcher. Lebt er noch?«
Fletcher senkte den Blick, und sie spürte, wie ihr Herz kurz aussetzte.
»Es sieht nicht gut aus, Mrs McGregor.«
»Also lebt er! Er lebt!«
Fletcher nickte. »Ja. Aber Ihr Mann ist in einem kritischen Zustand. Kommen Sie bitte mit.«
Sie hörte die Worte, und statt der Trauer, auf die sie sich innerlich schon eingestellt hatte, kam nun die Angst, dass sie ihn doch noch verlieren könnte. »Was ... was hat er?«
Auf dem Weg zur Intensivstation gab ihr Fletcher die Fakten. Eine gebrochene Rippe hatte die Lunge verletzt, aber das war das geringste Problem. Man hatte in der dreistündigen Notoperation eine Niere entfernen müssen, die durch den Sturz auf was auch immer gerissen war. Nach der Narkose war er nicht aufgewacht. Das erste CT, das sofort nach seiner Einlieferung ins Providence gemacht worden war, hatte eine Blutauflagerung auf der Gehirnoberfläche gezeigt ...
»Ein epidurales Hämatom?«
»Ja«, antwortete Fletcher überrascht. »Woher ...«
»Mein verstorbener Mann war Neurochirurg«, unterbrach ihn Leah. »Wann wird er operiert?«
»Gleich. Er ist der Nächste.«
Sie hatten die Intensivstation erreicht. Als Leah David sah, fing sie an zu weinen. Sein Gesicht war entstellt, er hing an ein paar Schläuchen und Kabeln. Nur das leise Piepsen der Geräte verriet, dass David den Kampf noch nicht aufgegeben hatte.
»Wird er durchkommen?«
»Ich will Sie nicht belügen, Mrs McGregor. Wir haben große Mühe, seinen Kreislauf stabil zu halten. Setzen Sie sich zu ihm.«
Während Fletcher Davids Werte begutachtete, ergriff sie dessen Hand. Sie war kraftlos wie ein verwelktes Blatt, das gerade eben noch am Ast hing. Ich liebe dich. Bleib am Leben. Meines wäre ohne deines nicht mehr lebenswert. Ich liebe dich.
S chon mehr als zwei Stunden kämpften die Ärzte nun um ihn, zum vierten Mal in den vergangenen Minuten schaute
Weitere Kostenlose Bücher