Lied der Wale
sie auf die Armbanduhr.
Ob sie sich nicht ein wenig frischmachen wolle und vielleicht ein bisschen ausruhen, fragte die Oberschwester. Erst da war Leah bewusst geworden, dass sie aussehen musste wie eine Landstreicherin, seit über sechsunddreißig Stunden hatte sie nicht mehr richtig geschlafen, und sie würde es auch jetzt nicht tun. Sich auch nicht frischmachen, sie wollte sich keinen Zentimeter von der Stelle rühren. Fletcher hatte nicht weniger als drei Mal erwähnt, welch ein Glück es sei, dass David überhaupt noch lebe, und sie hatte Angst, dass er, wenn sie jetzt nicht wie in einem magischen Ritual ständig den Kontakt mit David hielt, einfach gehen und seinen Körper und sie für immer verlassen würde. Also klebte sie weiter an dem unbequemen Plastikstuhl und ließ die Tür mit den Milchglasscheiben nicht aus den Augen, hinter denen das Schicksal wohnte. Unterstützt von einem Team von Ärzten.
Von den unzähligen wissenschaftlichen Publikationen, die sie für Timothy abgetippt hatte, war eine Menge hängen geblieben. Leah kannte jeden Handgriff. Befand sich das Hämatom im linken Schläfenbereich, hieß es, den Kopf rechts lagern, rasieren, einen Schnitt vom Ohr aus in Form eines Fragezeichens setzen, dann Umklappen der Kopfschwarte, Darstellen der Knochenhaut und des Kaumuskels, Durchtrennen desselben, Darstellung des Schädelknochens, Anlegen von zwei Bohrlöchern mittelseines Trepans, Verbinden dieser zwei Bohrlöcher mittels einer Knochenfräse, Herausnehmen des Knochendeckels von circa fünf Zentimeter Durchmesser, das Hämatom unter der Trepanationsöffnung mittels Sauger und Dissektor entfernen, die Blutungsquelle, wahrscheinlich eine kleine Arterie an der Basis des Hämatoms, koagulieren, Wiederansetzen des Knochendeckels, Nähen von durchtrenntem Periost und Kaumuskel, Nähen der Kopfschwartenwunde, dann der Verband und schließlich ...
Beten. Lieber Gott, lass ihn heil davonkommen. Die Glastür schwenkte zur Seite, und Leah sprang auf, als sie Fletcher herauskommen sah.
»Mrs McGregor, ich kann Ihnen noch nichts sagen. Wir geben unser Bestes, aber die Verletzung ist massiver, als wir angenommen haben, ich hoffe ...«
Es musste Leahs Blick sein, der ihn dazu veranlasste, ihr die Standardplattitüden zu ersparen.
Kraftlos ließ sie sich wieder auf den Stuhl sinken. Ihre Perspektive war falsch, das Schicksal wurde nicht von einem Team von Ärzten unterstützt. Momentan befand es sich in einem Kampf gegen sie. Wieder wehrte sie sich gegen die dunklen »Was wäre wenn«-Gedanken. Was, wenn David stirbt, Fletcher hat gesagt, die Blutung war größer als vermutet, was, wenn Ausfallerscheinungen auftraten, Sprachstörungen oder sogar eine halbseitige Lähmung, lieber Gott, lass ihn wieder gesund werden, ich flehe dich an, Hauptsache, du lässt ihn leben, und ich werde mich um ihn ...
Leah erinnerte sich an Mrs Kaufmann, ihre Nachbarin aus der Peach Street, wo sie bis zur fünften Klasse mit ihren Eltern gelebt hatte. Mrs Kaufmann war quasi ihre Adoptivoma gewesen, und Mr Kaufmann nahm sie oft auf den Schoß, wenn er im Rollstuhl mit ihr bis zum Dairy Queen fuhr, wo sie beide einen Banana Split aßen. Eines Tages sprang Leah wie immer über den Zaun inihren Garten und erwischte Mr und Mrs Kaufmann, wie sie sich auf der Veranda küssten. Damals dachte sie, alte Leute machten so etwas nicht, und als Mrs Kaufmann ihr in der Küche Ingwerlimonade eingoss, fragte Leah sie, woher man denn eigentlich wisse, dass man den richtigen Mann gefunden habe. Mrs Kaufmann, die eben noch verschmitzt gelächelt hatte, wurde ganz ernst. »Du weißt es, meine Kleine, wenn du keinen Zweifel hast, dass du deinen Mann auch lieb haben und ganz für ihn da sein wirst, wenn er krank ist. Auch wenn er sehr krank ist. Wenn du ihn pflegen musst.«
Zu jener Zeit hatte sie die Bedeutung nicht recht verstanden, ihre Welt bestand noch aus Froschkönigen und Märchenprinzen, und die schlimmste Krankheit hieß Masern. Jetzt, dreißig Jahre später und um einige Froscherfahrungen reicher, fielen ihr Mrs Kaufmanns Worte wieder ein. Und sie empfand keinen Widerstand, keine Abwehr, als sie daran dachte, dass sie David vielleicht pflegen müsste. Wie lange auch immer. Solange sie zusammen waren. Denn eine Trennung kam für sie nicht mehr in Frage.
Sie schrak auf, als zwei Ärzte aus dem OP rannten. Wenig später hasteten sie zurück, zwei Schwestern im Schlepptau. Kurz darauf rannten zwei andere Schwestern in den OP, die Hände
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