Lied der Wale
voller Blutkonserven. Als eine der beiden wieder durch die Glastür herauskam, hielt Leah sie fest.
»Bitte, sagen Sie mir doch, was los ist.«
»Herzstillstand. Aber sie haben ihn zurückgeholt. Ihr Mann ist ziemlich zäh, Mrs McGregor. Er kämpft wie ein Löwe.«
Die Milchglastür wirkte auf Leah mit der Zeit wie der Zylinder eines Zauberers. Der legte die Rose hinein und zog das Karnickel heraus. Legte einen Ball nach und entnahm die Rose. Steckte das Karnickel zurück und hielt danach den Ball wieder in der Hand. Ärzte und Schwestern schienen auf die gleiche magischeWeise von einer unsichtbaren Hand durch die Tür hinein- und wieder herausgeschoben zu werden, während Leah in ihren verschlossenen Gesichtern zu lesen versuchte, wie der Stand der Dinge war. Leider vergeblich, offenbar hatten sie alle dem Zauberer gegenüber den Treueschwur geleistet, keinen seiner Tricks zu verraten.
Plötzlich kam Fletcher auf sie zu.
»Er ist über den Berg«, sagte er und nahm erschöpft neben ihr Platz.
»Wird er wieder ... ganz gesund?«
»Wir wollen es hoffen, Mrs McGregor, im Moment mache ich mir mehr Sorgen um Sie. Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?«
»Keine Ahnung, aber ich könnte jetzt keinen Bissen herunterkriegen.«
»Aber das werden Sie müssen, nein, keine Widerrede! Denn wenn Sie nicht sofort feste Nahrung zu sich nehmen, kriegen Sie von mir auch nicht dieses kleine Namensschildchen hier, das Ihnen erlaubt, ihn zu besuchen.«
»Überredet.« Leah griff nach Fletchers Hand, sie hätte sie küssen können. »Und Dr. Fletcher. Sie haben nicht nur sein Leben gerettet. Danke!«
Fletcher zeigte schmunzelnd mit dem Finger nach oben. »Werd’s weiterleiten.«
Mit dem farbcodierten »Mrs McGregor, L.«-Namensschild bekam sie auch einen Schlüssel. Das Krankenhaus verfügte über ein Gästezimmer, und sie durfte dort übernachten. In drei Minuten war sie geduscht und frisch angezogen. In fünf hatte sie im Ärztecasino unter Fletchers Aufsicht ein Steak mit frischem Salat verschlungen. Zwei Stunden später war sie fluchend in dem bequemen Clubsessel aufgewacht, in dem Fletcher sie gebeten hatte, nur einen kurzen Moment auf ihn zu warten. Auf ihremSchoß klebte eine gelbe Haftnotiz: »Intensivstation, 2. Stock. Und übrigens: Sie schnarchen. ☺ , F.«
Dieser Schuft. Dieser wunderbare Schuft.
D er fensterlose Raum in der Intensivstation wurde nur von Neonröhren erhellt, und sie wusste nicht mehr, ob es draußen hell oder dunkel war, ob die Sonne schien oder es regnete.
»David?«
Hatte er eben, ganz leicht, ihre Hand gedrückt? Leah hielt sie seit Stunden, als ob sie dadurch etwas von ihrer Lebensenergie zu David leiten könne. Sie hatte keine Reaktion gespürt – bis eben. Doch auch dies konnte nur Einbildung gewesen sein. Sie massierte sanft seine Finger, hob den Mundschutz und hauchte auf jeden einzelnen einen Kuss.
»Mach die Augen auf. Bitte. Gib mir wenigstens ein Zeichen, dass du mich hörst.«
Fletcher schaute sich ihn vor Dienstschluss nochmals an, schien mit dem Verlauf recht zufrieden. Aber warum wachte David nicht auf? Es hätte längst geschehen müssen.
Irgendwann konnte sie gegen die Müdigkeit nicht mehr ankämpfen und nickte wieder ein. Sie schlief nicht richtig, denn sie vernahm dabei weiter das Piepsen der Geräte, als wäre es der gottgegebene Rhythmus, von dem alles Leben abhing. Das Merkwürdige war, dass sie trotzdem träumte und dabei genau wusste, dass es nur ein Traum war.
Darin führte Dr. Fletcher sie zu David, der sich auf einer Bank, ähnlich wie ihre auf der »SeaSpirit«, im Garten des Krankenhauses ausruhte und blendend aussah; aber sie war dafür sehr alt und hatte weiße Haare wie die von Dr. Fletcher, und David weigerte sich, diese alte Schachtel überhaupt anzuschauen, konnte sich ganz und gar nicht an sie erinnern, doch Dr. Fletcherbedeutete ihr, Geduld zu haben – »Es wird schon wieder werden, Mrs McGregor« –, und David wurde wütend, beharrte darauf, er sei mit dem Drachen an der Rezeption verheiratet, er sei nur da, um seine Frau abzuholen, und da hüpfte die auch schon durch die Milchglastür, und im Gegensatz zu Leah war sie noch jung geblieben, trug ein aufreizendes enges Kleid mit einem Dekolleté, so groß wie North Dakota, und warf sich David um den Hals und erzählte Dr. Fletcher, dass sie und David und ihr Sohn Noah jetzt mit den Walen tauchen würden, und natürlich sei sie seine richtige Frau und nicht die da ...
»Mrs McGregor, so,
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