Lied der Wale
so.«
Leah schreckte hoch, als sie Fletcher hörte, schaute zur Tür, aber niemand war hereingekommen. Sie musste es geträumt haben, irgendetwas in einem Park, und da war auch ... Es war keine Einbildung. Definitiv nicht. Davids Augen waren geschlossen, aber sie konnte deutlich sehen, dass er lächelte.
»David?«
»Denk schon, ja.«
»Oh, mein Gott, oh, mein ... du bist, du bist ...«
»Verheiratet?«, flüsterte er verschmitzt.
»Schwester«, schrie sie euphorisch, »Schwester, er ist wach!«
»War schon hier, Leah«, sagte er und befeuchtete dabei seine trockenen Lippen, »wir wollten dich nicht aufwecken.«
Sie überschüttete seine Hand mit Küssen und ließ sich vom Stuhl runter auf ihre Knie, um näher bei ihm zu sein, und er fragte sie, ob sie in Vegas wären. Leah dachte, er halluziniere noch, aber egal, Hauptsache, er war aus der Narkose aufgewacht, konnte sprechen und, da, auch seine rechte Hand bewegen, denn er deutete auf das »Mrs McGregor«-Namensschild. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, und sie lachte und weinte vor Glück, erzählte ihm, wie es kam, dass sie überhaupt hier sein durfte, wie sie im Fernsehen gesehen hatte, was diese Schweine ihm angetanhatten, nur über den Untergang der »SeaSpirit« verlor sie kein Wort. Sie redete und redete, froh über jedes Lächeln, das er ihr schenkte, bis Dr. Fletcher kam und sie aus dem Zimmer holte.
»Er braucht nun viel Ruhe, Mrs McGregor. Sie gehen jetzt und schlafen sich mal richtig aus.«
Diesmal widersprach sie nicht.
Leah schleppte sich zu dem überraschend gemütlichen kleinen Gästezimmer, warf sich aufs Bett und rief zu Hause an. Sie hoffte, dass Michael noch wach war – und bitte, bitte, lass ihn rangehen und nicht Geoffrey, das verkrafte ich jetzt nicht! Doch für den heutigen Tag hatte das Schicksal ihr offenbar schon sein volles Maß an Gunst gespendet.
Geoffreys Stimme klang ruhig und besonnen, was sie noch mehr schmerzte, denn sie wusste nur zu gut, dass das Fassade war. Voll schlechtem Gewissen versuchte sie, an ihr schlimmes letztes Gespräch anzuknüpfen, war bemüht, sich zu entschuldigen für das, wofür es keine Entschuldigung gab. Geoffrey hörte ihr geduldig zu, was sie noch mehr beunruhigte, und als sie ihn bat, endlich was zu sagen, schien er eher amüsiert.
»Was willst du hören, Leah? Soll ich mich für euch freuen? Whoopie-Doopie-Halleluja. Zufrieden?«
»Geoffrey, bitte«, flehte sie ihn kleinlaut an und erntete prompt ein lautes Lachen.
»Du wolltest sicher Michael sprechen, richtig?«
»Ja, aber ...«
»Willst du meine Absolution?«, unterbrach er sie. »Die wirst du nicht kriegen. Aber bevor ich ihn hole, solltest du wissen, dass Michael denkt, du musstest wegen der ›SeaSpirit‹ dableiben. Er hat es im Fernsehen mitgekriegt, also schien es ganz logisch. Ich hoffe, es war in deinem Sinn.«
»Ja«, antwortete sie dankbar. Diese Größe hätte sie ihm nicht zugetraut. Und es lud noch mehr Schuld auf ihre Schultern.
Ihr Sohn kam ans Telefon, und Leah gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Michael erzählte, was er bis jetzt Tolles gelesen hatte, »Klassiker, Mami, was Erwachsene auch lesen«, wie er dabei war, kochen zu lernen, »Magst du Hühnchencurry, ich kann jetzt Hühnchencurry machen, richtig scharf, mit Reis und so ’nem Gemüsezeug, wie in Indien«, und was er mit Geoffrey noch alles Verrücktes unternommen hatte. Und ihr Herz tat ihr noch mehr weh. Sie hielt es eine Viertelstunde durch. Freute sich für Michael und war traurig wegen Geoffrey. Der all das mitbekam. Michaels quietschvergnügter Bericht von ihrer engen Verbundenheit musste bei Geoffrey wie Salz in der Wunde brennen. Geoffrey war es gelungen, mit Riesenschritten bei Michael an Boden zu gewinnen, damit sie eine Familie werden konnten, und unvermutet zog Leah ihm nun den Boden unter den Füßen weg. Sie dachte an ihn mit einem Gefühl voller Liebe und verstand nicht, warum sie dies erst jetzt erkannte.
Plötzlich stand sie zwischen zwei Männern. Und, ja, sie liebte sie beide. Für wen sie sich entscheiden würde, längst entschieden hatte, stand außer Frage, aber die Tatsache, Geoffrey Leid zuzufügen, machte ihr außerordentlich zu schaffen. Die ganze Zeit auf dem Schiff hatte sie sich vor dem Augenblick gefürchtet, in dem sie Geoffrey damit konfrontieren würde. Im Vergleich zu dem, was jetzt passierte, hätte sie sich eine Konfrontation beinahe gewünscht, wäre froh gewesen, wenn er sie angeschrien, mit
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