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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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hinweg. Sie erschauerte.
    »Erzählen Sie etwas von sich.« Dieses Mal unterbrach sein Finger das Streicheln in Höhe des Eherings.
    Leah schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht den Wunsch, ihm über ihren Job als Redakteurin zu berichten. Und schon gar nicht, ihn mit ihrer kleinen Sinnkrise zu langweilen. Sie wollte einfach nur seine Hände spüren. Vielleicht auch mehr als das. Pfui, woher auf einmal diese Gedanken? Das war der schlechte Einfluss ihrer Freundin Susan, definitiv. Leah konnte sich gut vorstellen, wie Susan in so einer Situation ihrem Gegenüber signalisiert hätte, woran genau sie interessiert war.
    Als ob McGregor ihre Gedanken lesen konnte, bat er um die Rechnung. Auf dem Weg zurück legte er wie selbstverständlich den Arm um sie. Und sie erwiderte die Geste. So erreichten sie, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, das Hotel.
    McGregor begleitete sie bis vor die Zimmertür. Leah hatte bislang den Gedanken, wie es an diesem Punkt weitergehen sollte, erfolgreich verdrängt, doch jetzt konnte sie der Entscheidung nicht mehr länger ausweichen. Wie würde sie reagieren, wenn er versuchen sollte, sie zu küssen? Vom Alter her hätte er fast ihrVater sein können, doch das interessierte sie momentan so sehr wie der aktuelle Wasserstand des Aralsees.
    Sie hatte Timothy noch nie betrogen – vielleicht in ihrer Fantasie, aber wer konnte das einer Frau verdenken, die ihren Mann seltener sah als ihre Kosmetikerin?
    Er würde sie küssen, das war so klar wie das Amen in der Kirche.
    »Schlafen Sie gut, Mrs Stanford, ich habe mich sehr gefreut, Sie kennengelernt zu haben.« Er ergriff ihre Hand, führte sie sanft zu seinen Lippen, ließ sie wieder los und sah ihr in die Augen.
    »Danke, das Vergnügen lag ganz auf meiner Seite.« Wenigstens die Standard-Textbausteine beherrschte sie noch.
    McGregor wandte sich ab und schickte sich an, den Flur hinabzugehen. Er verschwindet , stellte der Chor all ihrer inneren Stimmen lakonisch fest. Er hat es nicht mal versucht! McGregor hatte den Fahrstuhl schon fast erreicht, als Leah seinen Namen rief. Er drehte sich um.
    Langsam ging sie ihm entgegen. Den Kopf voller Moralprediger im Disput, die er zum Glück nicht hören konnte. Diaphragma hin, Diaphragma her, eine piepsige Stimme gewann schließlich die Oberhand: Küss ihn! Und das tat sie. Mit einer Leidenschaft, über die sie selbst erschrak. Ein Orkan, wo sie ein Sommerlüftchen erwartet hatte. Er erwiderte den Kuss, zuerst zögerlich, dann ebenso heftig und leidenschaftlich. Sie spürte seine kräftigen Hände, die sie abwechselnd hielten und durch ihre Haare strichen. Die Stimmen in Leahs Kopf beendeten endlich ihr Gezänk. Bis zu dem Moment, in dem sie in den luftleeren Raum gestoßen wurde. Denn seine Hände und seine Lippen lösten sich völlig unerwartet von ihr.
    »Leah, wir würden es beide bereuen.«
    Es waren die letzen Worte aus seinem Mund, bevor er aus ihrem Leben verschwand.
    Freier Fall, wenn man glaubt, man hätte einen Fallschirm. Mit neunzig Meilen pro Stunde auf dem vereisten Highway, wenn man meint, die Bremsen funktionierten. Augenblicke, in denen man denkt, man kontrolliere das Spiel. Sie stand noch eine halbe Ewigkeit vor der verschlossenen Aufzugtür. Am ganzen Köper zitternd. Vor Demütigung. Vor Scham, bereit gewesen zu sein, ihre Ehe zu verraten. Schlimmer noch: vor Verlangen.
    E ines war sicher: Einen besseren Weg, sich bis auf die Knochen zu blamieren, musste man erst mal finden. Leah hätte den unsäglichen Abend aus ihrem Gedächtnis streichen sollen. Restlos. Stattdessen ging sie alles Wort für Wort, Geste für Geste, Blick für Blick durch, in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, wo sie seine Zeichen – waren da welche gewesen? – so erbärmlich falsch bewertet hatte. Mein Gott, war sie naiv. Und lange aus der Übung. Mit der knappen Handvoll Männer, Timothy inklusive, mit denen sie etwas gehabt hatte, war das anders gewesen. Da hatte sie keine Rauchsignale deuten müssen.
    Nein, es war nicht einfach, McGregor aus ihrem Schädel zu verbannen. Leider.
    Weiter kam sie nicht in ihren Überlegungen. Denn der Kindergarten rief an, Michael habe die Windpocken und solle unverzüglich abgeholt werden. Gott sei Dank konnte sie ihren Dad erreichen, der das für sie erledigte. Also lieferte sie Jim ihre Kolumne ab und war gerade dabei, sich wieder auf den Weg zu machen, als ihr McGregors Name auf dem Bildschirm entgegenleuchtete. Er war in einem der abonnierten E-Mail-Newsletter erwähnt, die

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