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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Thomas
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Loughboro Road erinnern. Sie wusste nur noch, dass sie die ganze Zeit über von einem einzigen Gedanken beherrscht war: Was mache ich, wenn Pa stirbt? Kurz vor dem Telefonat war es noch ein anderer gewesen: Was ist von meiner Ehe eigentlich noch übrig? So schnell konnten sich die Dinge ändern.
    Ihre Mutter nahm sie im Krankenhaus in Empfang. Sie umarmte ihre Tochter und wurde dabei von Weinkrämpfen geschüttelt. Es vergingen lange Minuten, ehe sie Leah erzählen konnte, was vorgefallen war. Seit Monaten sei ihr Vater so verschlossen gewesen, erklärte sie, bis vor acht Wochen. Da habe er ihr erzählt, dass er in großen finanziellen Schwierigkeiten stecke. Dass es aber so aussehe, als seien die schlimmen Zeiten bald vorbei. Danach sei er regelrecht aufgeblüht. Alles sei bestens. Vor drei Tagen habe er sie sogar das erste Mal – nach zehn Jahren! – gefragt, ob sie nicht zusammen in Urlaub fahren wollten.
    Als sie heute in der Küche seinen Kakao zubereitete, hatte sie einen dumpfen Schlag vernommen und war ins Wohnzimmer gestürzt. Dort lag er vor dem Fernsehsessel auf dem Boden. Sie wartete hilflos auf die Sanitäter, während im Hintergrund immer noch dieser ätzende Wirtschaftskanal lief, den er vor eineinhalb Monaten zu seinem neuen Lieblingssender auserkoren hatte.
    Ein Verdacht beschlich Leah, der so fürchterlich war, dass sie sich verbieten wollte, darüber nachzudenken. Ihr Vater hatte bisher niemals einen dieser Sender eingeschaltet, die den ganzen Tag ausschließlich über das Auf und Ab an der Wall Street berichteten. Er war immer der Meinung gewesen, seriöse Informationen bekomme man nur aus einer der guten Tageszeitungen, wie zum Beispiel aus der, bei der seine Tochter beschäftigt war.
    Wenn er also plötzlich angefangen hatte, eines dieser schillernden Magazine im Fernsehen zu verfolgen, welche die Wirtschaft auf einem Niveau verhandelten, das noch jedem blanken Laien suggerierte, er sei ein Aktienexperte, dann bedeutete das nichts Gutes. Sie betete, dass diese neue Marotte ihres Vaters nichts mit einem ihr bekannten Fonds zu tun hatte, den er – auf ihren Hinweis hin – für die Lösung all seiner finanziellen Probleme gehalten haben könnte.
    Während sie in dem neondurchfluteten Wartesaal noch ihre Mutter zu trösten versuchte, kam ein Assistenzarzt vorbei, der erklärte, Mr Cullin sei jetzt bei Bewusstsein. Und er wünsche seine Tochter zu sehen. Allein.
    Ihre Mutter warf ihr einen verstörten Blick zu – nein, nicht nur verstört, auch verletzt. Leah gab vor, nicht zu wissen, was ihr Vater von ihr wollte. Doch die Tatsache, dass er sie allein zu sprechen wünschte, schien die schlimme Vorahnung, mit der sie sich seit einer geraumen Stunde quälte, zu bestätigen. Als sie den Raum betrat, in dem ihr Vater lag, erschrak sie. Seine Wangen weit nach innen gewölbt, die Haut, als wäre sie mit Asche eingerieben, die Augen tief in den Höhlen, wirkte er, als sei er in den vergangenen acht Wochen um ein halbes Jahrhundert gealtert. Vor ihr lag ein Greis. Das Schlimmste war jedoch sein Blick: erloschen, tot.
    »Hi Dad.«
    Schuldbewusst suchten seine Augen ihre, als sie sich neben dem Bett niederließ, und Leah sah, wie seine Tränen auf dem Kissenbezug einen dunklen Fleck bildeten.
    Leah küsste seine Hand und erschrak zum zweiten Mal, denn sein einst so fester Händedruck hätte nicht mal mit dem ihres kleinen Sohnes mithalten können.
    »Entschuldige«, murmelte er, kaum verständlich, so als ob man ihm eine Mullkompresse in den Mund geschoben hätte.
    »Es gibt nichts zu entschuldigen, Dad.« Die Phrase war ihr herausgerutscht, und sie wünschte, sie könnte sie zurücknehmen. Denn wenn ihr Vater sich dazu herabließ, sich zu entschuldigen, dann musste es einen triftigen Grund dafür geben. Ihr Pa hatte viele Qualitäten, doch das Eingeständnis eigener Schuld gehörte nicht zu seinen Stärken. Umso mehr machte es ihr Angst. Er hatte ihre Begrüßung nicht einmal erwidert. So dringend war sein Wunsch gewesen, sich zu entschuldigen.
    Er setzte erneut an zu sprechen, doch aus seinem Mund drang nur ein heiseres Röcheln. Leah legte ihr Ohr an seine Lippen, und ihr Vater startete einen neuen Versuch. Was er sagte, klang entfernt nach »Mary Ann«. Leah kannte niemanden, der so hieß. Sie war sicher, das Wort konnte nur eines bedeuten – und das Unwetter ihrer Gedanken weitete sich zu einem ausgewachsenen Hurrikan aus – Harriman! Ihr Vater hatte in den Fonds investiert. Und wie sie ihn

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