Lied der Wale
organisieren, denn Timothy hatte, das war klar, wieder mal keine Zeit. Seitdem er als Neurochirurg in der Georgetown University School of Medicine tätig war, hatte Timothy für gar nichts sonst Zeit. Leah wunderte sich, wie es überhaupt dazu gekommen war, Michael zu zeugen, denn sogar Sex war für Dr. Stanford eine unzumutbare Ablenkung von seiner Arbeit. Sie musste zugeben, er arbeitete wie ein Tier: den ganzen Tag im OP, nachts an seinen Vorträgen. Aber meine Güte – sie gab es auch noch. Und sie hatte ebenfalls Stress und trotzdem eine gesunde Libido. »Ich schenk dir zu Chanukka einen Vibrator«, hatte ihre beste Freundin Susan ihr schon mal gewohnt frivol versprochen.
Weil auch Susan heute keine Zeit hatte, auf Michael aufzupassen, blieb nur der Canossagang zu Leahs Mutter. Und die machte es ihr nicht leicht: »Schatz, ich bin gerne Großmutter, aber noch lieber spiele ich Bridge.« Leah verfluchte wieder einmal ihren und Timothys Job, die Leidenschaft ihrer Mutter fürs Kartenspiel und beinahe auch ihren Sohn, der nicht gerade dazu beitrug, ihr das Leben zu erleichtern.
Letztendlich zeigte sich ihre Mutter gnädig. Leah brauchte nur zu verkünden, dass sie dann leider gezwungen wäre, auf Timothys Eltern zurückzugreifen, schon ging sie die Wände hoch: »Die Nazis ?! Du wärst bereit, mein Enkelkind denen auszuliefern?! Das ist Erpressung !«
Die übelste sogar. Leah war auch nicht gerade verrückt nach ihren Schwiegereltern, doch ihre Mutter bekam seit jenem unsäglichen Thanksgiving schon bei der Erwähnung ihrer Namen Pustelausschlag. Gordon und Lora, erzkonservative Republikaner (minus 20 Punkte), die am liebsten alle Einwanderer nach der »Mayflower« postwendend zurück in ihre Rattenlöcher verfrachtet hätten (minus 50), begingen zwischen Truthahn undBratäpfeln mit Vanilleeis den kapitalen Fehler, Mrs Cullin zu fragen, ob die Juden nicht doch vielleicht an ihrem Schicksal selbst schuld wären (minus unendlich, Super-GAU!).
Im Hause Cullin war Religion kein Thema, die gleichen Woolworth-Kerzen, die zu Chanukka in der Menora brannten, schmückten auch den Weihnachtsbaum, nicht selten stand der Pessachbecher für den Propheten Elia zwischen den bunten Ostereiern auf dem Tisch. Aber das war einfach zu viel.
Mrs Cullin ließ Gordons peinliche Tiraden – »Man weiß doch, was die Rothschilds im Schilde führten/wer die Welt beherrscht/wer von Hollywood aus mit Sex, Drogen und Gewalt die Jugend verdirbt« – noch mit redlicher Mühe über sich ergehen, und weil nun mal Erntedankfest war und aus Respekt für die Pilgerväter der »Mayflower« sowie aus Rücksichtnahme auf ihren Schwiegersohn Timothy hielt sich ihr Vergeltungsschlag sogar in Grenzen: »Zum Teufel mit dir, du bigotter Hundesohn! Du bist es nicht mal wert, dass man dir ins Gesicht spuckt!«
»Wie wagen Sie, so mit meinem Mann zu reden?«, empörte sich »Eva Braun« und blies zum Zapfenstreich. Es war das letzte Mal, dass die Senioren der Cullin- und Stanford-Dynastien die gleiche Luft einatmeten, selbst Michaels Geburtstage wurden seitdem in zwei Schichten gefeiert.
Leah tat es leid, dass wegen Gordon, diesem Dummkopf, das Gespräch derart entgleist war, bei einem Thema, das sie selbst ihr Leben lang beschäftigt hatte. Ihr Vater war Presbyterianer, wusste aber nie so richtig, inwieweit die Presbyter sich von den anderen christlichen Glaubensrichtungen unterschieden. Ma stammte aus einer liberalen jüdischen Familie, die sich zwar zu ihrer Religion bekannte, sie aber nicht mehr praktizierte. Und beide ließen ihrer Tochter die Wahl, sich als Erwachsene ihre Religion selbst auszusuchen. Was sie bis heute nicht getan hatte.
Im rein hypothetischen Fall, dass Leah sich doch für die eineoder andere Religion hätte entscheiden müssen, hätte mit Sicherheit das Judentum gesiegt. Der leiseste antisemitische Unterton genügte, schon ging ihr das Messer in der Tasche auf. Vielleicht lag es an ihrem Sinn für Gerechtigkeit, ergriff sie doch in jeder Situation automatisch Partei für die Außenseiter und Underdogs ...
Mit der Einladung zur Pressekonferenz nach New York hatte sie sich jedenfalls nur Probleme eingehandelt. Ihre Mutter war sauer wegen des vermasselten Bridgeabends, Timothy wegen der Vorwürfe, nie für die Familie da zu sein, und sie selbst auf den Rest der Welt. Warum musste Jim sie auch über ihren Kopf hinweg dort anmelden? Konnte nicht jemand anderes aus der Redaktion über diesen McGregor berichten?
»Du bist die
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