Lied der Wale
täglich ihren Rechner erreichten. Leah las. Und erstarrte.
McGregor hatte an diesem Morgen die Verlobung mit Britt Holland bekannt gegeben, Erbin eines Kosmetikimperiums, die ohne weiteres selbst als Model für ihre Produkte durchgehenkonnte. Sie seien im Geheimen schon seit über einem halben Jahr ein Paar. In den sogenannten gut unterrichteten Kreisen kursierten Gerüchte, dass Britt schwanger sei.
Leah drehte dem Rechner den Saft ab, ohne ihn ordnungsgemäß herunterzufahren, und redete sich ein, dass sie sich freuen würde, wenn Timothy heute früher von der Arbeit käme. Dass ihre Seele dann vielleicht wieder Frieden finden würde. Doch zu Hause empfingen sie ihr weinender Sohn und ihr weinender Vater.
Ersteres war in Anbetracht des peinigenden Streuselkuchens auf der Haut ihres Sprösslings kein Wunder. Letzteres verstörte sie nachhaltig, was sie vor ihrem Sohn zu verbergen suchte. Sie gab Michael die Medikamente, die ihr Vater schon besorgt hatte, und betupfte die einzelnen Bläschen mit einer weißen Paste. Dann verabreichte sie ihm ein Zäpfchen gegen das Fieber und brachte ihn zu Bett.
Anschließend hockte sie sich zu ihrem Vater an den Küchentisch und schenkte ihnen beiden einen starken Kaffee ein. Es war ihr aufgefallen, dass ihr Dad in letzter Zeit schweigsamer geworden war. Doch er gehörte nicht zum Club der Lamentierer, also hatte sie dem auch keine weitere Beachtung geschenkt. Umso mehr erschütterten sie die Tränen des Mannes, den sie in ihrem ganzen Leben noch nie hatte weinen sehen.
Er fasste die Katastrophe knapp zusammen. Sein, wie sie glaubte, florierendes Textilunternehmen »Cullin Fashions« mit vierzig Angestellten stand kurz vor dem Bankrott. Seit drei Jahren ging es bereits bergab, der Preiskampf war mörderisch. Größere Firmen, fast zu hundert Prozent automatisiert, unterboten seine Preise mühelos. Sein Betrieb müsste wachsen, doch er konnte kaum den Status quo halten. Inzwischen hatte er die Hälfte des privaten Vermögens in die Firma gesteckt. Und gerade hatte er erfahren, dass sein Hauptkunde in Zukunft bei »Zager &Zager« einkaufen würde. Alle Pläne, die Firma zu sanieren, waren damit Makulatur. Auch die Banken zeigten sich nicht mehr bereit, weitere Kredite zu bewilligen. Aus und vorbei.
»Harriman.« Leah war sich nicht bewusst gewesen, dass sie es laut ausgesprochen hatte.
»Wie bitte?«
»Harriman«, wiederholte sie. »Ein Fonds. Steigt in den nächsten Wochen steil nach oben. Hab’s von McHedgefonds persönlich.« Sie hatte keinen Zweifel daran, wollte das Thema aber nicht weiter vertiefen. »Vergiss es.«
Das Interesse ihres Vaters schien auch weniger ihrer Bemerkung zu gelten als vielmehr dem Aufspüren einer weiteren Packung Papiertaschentücher.
Zwei Wochen später – Michaels rote Pusteln hatten inzwischen den üblichen Blessuren Platz gemacht, die der Kindergartenalltag mit sich brachte – war der Artikel über McGregor erschienen. Man klopfte Leah auf die Schulter; sogar Timothy, der ihn im Flugzeug gelesen hatte, zurück von einem seiner medizinischen Kongresse, die er nie auslassen würde, gefiel er. Gelungene Mischung zwischen packender Wirtschaftsreportage und der rechten Prise »human touch« – so der Tenor der selbsternannten wie auch der wahren Kenner. Nur Susan fragte sie direkt: »Hast du was mit McGorgeous?«
Schimmerte es so deutlich zwischen den Zeilen hindurch, dass dieser Abend nicht spurlos an ihr vorübergegangen war? Zum Glück waren das nur oberflächliche Kratzer auf der Seele, die man mit ein wenig Politur wieder beseitigen konnte. Dennoch, McGregor hatte Saiten in ihr zum Klingen gebracht, von denen sie nicht mal wusste, dass sie überhaupt noch gespannt waren.
Vor allem aber hatte dieser Abend Leah bewusst gemacht, dass ihre Ehe einem reichlich zerschlissenen Anzug glich. Und wenn es hier noch etwas zu retten gab, dann war es höchste Zeit, dieNadel anzusetzen, bevor selbst die Altkleidersammlung dankend abwinkte. An diesem Wochenende gelang es ihr zum ersten Mal seit langer Zeit, Timothy ins Bett zu zerren. Es war schrecklich. Nein, es war wunderbar. Wunderbar schrecklich. Ein Orgasmus, mit dem Timothy allerdings nur geringfügig zu tun hatte. Es war David McGregor, den sie in den Armen hielt, er war es, dessen Zunge sie spürte, er war es, der in dieser Nacht ein Feuerwerk in ihr entzündete. Dieser Mistkerl!
Nicht zuletzt ihr Artikel über den Börsenstar mit den menschlichen Zügen löste einen wahren Boom
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